Praxissemester – Chance oder Chaos?

Zu wenig Praxis – ein Kritikpunkt an den „alten“ Lehramtsstudiengängen. Mit zwei, drei mehrwöchigen Praktika war es in der Regel getan. Zu wenig fanden NRW-Bildungspolitiker: Heutige „Master of Education“-Studierende müssen ein fünfmonatiges Praxissemester absolvieren. Ein Job für Miete und Lebensunterhalt sei daneben nicht drin, sagen viele der angehenden Lehrerinnen und Lehrer. Sie sehen sich angesichts des unentgeltlichen Pflichtpraktikums mit Existenzängsten konfrontiert.

Studierende kritisieren das Praxissemester im Lehramtsstudiengang Master of Education (MEd)

Studierende im Praxissemester haben viel zu tun: Nicht nur schulinterne Herausforderungen wie Hospitationen, eigener Unterricht und Konferenzen stehen auf der Agenda, sondern auch begleitende Seminare an der Universität und den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL). Ausgiebige Vor- und Nachbereitungen und das Anfertigen einer Praktikumsdokumentation kommen obligatorisch dazu.

Das Geldproblem

Tatjana* hat sich bislang über einen Job in der Nachmittagsbetreuung an einer Grundschule finanziert. Arbeits- und Praktikumszeiten vertragen sich aber nicht; die Folge: „Ich musste die Stelle deshalb kündigen.“ Mehr noch: „In Absprache mit meinem Vater haben wir einen Kredit aufgenommen, um die finanzielle Lücke schließen zu können.“

Im Gegensatz zu Tatjana* erhält ihre Kommilitonin Sandra* zwar Bafög, kann damit jedoch gerade einmal die Miete bezahlen. Auch sie hat ihren Job aufgegeben und wird sich „für das halbe Jahr Geld bei Freunden leihen müssen“.

Wie steht es somit um die Vereinbarkeit vom Praxissemester mit dem Nebenjob?

Laut Ute von Waldthausen, Sprecherin der Schulseite für die Ausbildungsregion der Universität Wuppertal, beinhalte das Praxissemester „einen schulischen Anteil, der circa 240 Stunden umfasst und sich auf vier Wochentage bezieht“. Weitere 60 Stunden seien für Vor- und Nachbereitung vorgesehen. Dazu kämen noch etwa 90 Stunden für Veranstaltungen und Beratungen der ZfsL.
Der Lohn: 13 Leistungspunkte (LP) als auch die nicht zu unterschätzende schulpraktische Erfahrung. Fehlen noch 17 LP, um das pro Semester vorgesehene Soll zu erfüllen. 120 LP in vier Semestern sieht die Prüfungsordnung als Regel vor.
Das geht nur über Uni-Kurse am praktikumsfreien Studientag. „Der Studientag an der Universität ist deshalb notwendig, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, zusätzliche Studienleistungen zu erbringen“, erklärt Dr. Eva Parusel, Praktikumskoordinatorin im Servicebereich der School of Education, und fügt hinzu: „In den übrigen Zeiten steht einer Berufstätigkeit nichts im Wege.“

Zahlreiche betroffene Studierende widersprechen dieser Einschätzung. Rund zwei Dutzend haben sich nach einem Aufruf auf www.blickfeld-wuppertal.de ausführlich gegenüber der blickfeld-Redaktion geäußert.

Marianne* beispielsweise muss sich sogar komplett selbst finanzieren: „Ich arbeite 20 Stunden die Woche, um mein Studium überhaupt absolvieren zu können.“ Im Hinblick auf das bald beginnende Praxissemester weiß die Studentin noch nicht, wie sie es finanziell überbrücken soll. Zeit für ihren Nebenjob sieht sie momentan nicht.

Laut der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) stehen rund zwei Drittel aller Studierenden in einem Beschäftigungsverhältnis, in Wuppertal gar 75%.

Einmal Uni, Schule, Zfsl und zurück

Vor allem die langen Fahrzeiten zu den Praktikumsschulen werden von vielen Studierenden als Problem angesehen. Sabine* muss für die Strecke zur Schule rund drei Stunden aufwenden: „Durch die sechs Stunden Zugfahrt an vier Tagen pro Woche ist es für mich nicht möglich, meinen Nebenjob zu halten, den ich dringend benötige, um meine Miete und die Nebenkosten zahlen zu können.“ Lisa* hat ebenfalls mit einer langen Fahrtzeit zu kämpfen. Sie sitzt mindestens 1 ½ Stunden pro Tag im Zug. Zeit, die ihr im Job fehlt. Geld, das ihr zum Leben fehlt: „Mit 25 fällt das Kindergeld weg. Das muss ich kompensieren.“ Sie überlegt ein Darlehen aufzunehmen.

„In den ersten Wochen war ich es gewohnt von 6.30 bis 20.00 Uhr unterwegs zu sein“, schildert Marco*, der mitten im Praxissemester steckt. Er lebt derzeit von Ersparnissen. Seine Kritik: „Uni, Schule und ZfsL haben zu viele Anforderungen. Ich wäre schon alleine mit den Unterrichtsvorbereitungen maßlos überfordert, aber zusätzlich noch die aufwendigen Dokumentationen für die Uni und ZfsL sind einfach zu viel.“ Er ergänzt: „Es war eine bloße Zugfahrt zwischen Schule, ZfsL und Universität.“

Seminare in der Uni, Vorbereitungen in der Bib, Einführungsveranstaltungen in den Zfsl als auch Unterrichtsberatungen und -analysen in der Schule, die Fahrt zum Job und nach Hause – für viele ein Organisationsproblem. Insbesondere, wenn diese weit voneinander entfernt sind.

Die Bergische Universität Wuppertal ist den ZfsL Solingen, Düsseldorf, Neuss und Mönchengladbach zugeordnet: „Alle Schulen dieser vier ZfsL-Standorte sind mögliche Praktikumsschulen“, erklärt Ute von Waldthausen.
Studierende können im Vergabeverfahren zwar Wunschschulen angeben, aber „von den fünf Wunschschulen, die wir angeben mussten, habe ich keine bekommen“, kommentiert Lisa* diese Möglichkeit.
Ein Schultausch sei in der Regel nicht möglich: „Die Durchführung der Vergabe der Schulpraktikumsplätze erfordert einen hohen Aufwand an Ressourcen auf Seiten der Bezirksregierung, der ZfsL und der Universität. Daher besteht leider nicht die Möglichkeit, die Schule nach erfolgter Zuweisung zu wechseln“, erläutert Dr. Eva Parusel.

Erfahrung als Chance

Prinzipiell begrüßt die Mehrheit der MEd-Studierenden das Praxissemester, so wie Nina*: „Ich finde die Idee des Praxissemesters super und ich finde es gut, dass wir in der Schule auch unterrichten müssen und so praktische Erfahrung sammeln können.“

Ute von Waldthausen, zugleich Leiterin der ZfsL Neuss, betont, dass im Rahmen von hausinternen Evaluationen ein positives Feedback von den Studierenden kam: „In mehreren Bilanz- und Perspektivgesprächen, an denen ich selbst teilgenommen habe, wurde der persönliche Gewinn, der durch das Praxissemester im Hinblick auf die eigene Berufsfeldentscheidung und auf die nähere Kenntnis des Berufsfeldes erreicht werden konnte, sehr hoch geschätzt.“

Die Äußerungen zeigen: Nicht das Praxissemester selbst steht in der Kritik, sondern die Umsetzung!

Die Lösung: Geld fürs Praktikum?

Die Wuppertaler Studierenden formulieren einen gemeinsamen Hauptkritikpunkt: Das Pflichtpraktikum ist unentgeltlich. „Mindestens ein Lohn in Höhe eines Minijobs“ sollte die Vergütung nach Ansicht von Tatjana* beinhalten. „Mit dem Erhalt des B.A.-Abschlusses sind Lehramtsstudenten außerdem befähigt, bezahlte Vertretungsstellen an Schulen anzunehmen“, gibt Lisa* zu bedenken.

Mustafa Bilgin, erster Vorsitzender des Fachschaftsrates (FSR) des Instituts für Bildungsforschung in der School of Education, stellt klar: „Wir vertreten die Position, dass die heranwachsende Generation der Lehramtsstudierenden während der Zeit des Praxissemesters finanziell unterstützt werden sollte.“ »mw«

Titelbild: Geldprobleme im Praxissemester © vk

*Namen von der Redaktion geändert

Weitere Informationen zum Praxissemester:

  • Online-Petition zur finanziellen Unterstützung von Lehramtsstudierenden im Praxissemester : Link (bislang über 4.700 Unterstützer)
  • Runderlass „Praxiselemente in den lehramtsbezogenen Studiengängen“ des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 28.06.2012 (Stand 01.07.2013): Link

Eure Meinung ist gefragt:

Niemand bezweifelt: Mehr Praxiselemente im Studium sind gut, doch sehen zahlreiche Studierende Defizite in der Ausgestaltung des Praktikums. Wie seht ihr das?

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  1. … und wer zahlt das Essen? und wo dürfen wir wohnen? Unglaublich – wir müssen nicht nur kostenlos verpflichtend arbeiten, sondern auch noch unseren Nebenjob, der unsere Existenz sichert aufgeben. Das Studium verlangt und zerrt an den Studierenden genug, da benötigt man nicht auch noch ein finanzielles Desaster.

    Das hat der Staat sich fein ausgedacht!!!

    Unbezahlt arbeiten und dafür ein halbes Jahr den bezahlten Job (Referendariat) kürzen, und weil es so schön ist und wir als angehende Lehrkräfte noch nicht genügend ausgelastet sind, werden die Leistungsinhalte im Masterstudium, trotz dem Praxissemester, nicht angeglichen.

    …zu bedenken ist, das die Kapazitäten von Mami und Papi auch irgendwann mal aufgebraucht sind…. Da wird es wohl bald einige ungewollte Obdachlose mehr geben! Gratulation. Bildung in Germany macht Spaß Bitte unterschreibt und wehrt Euch gegen diese unglaubliche Forderung im Lehramtsstudium. Genug ist genug.

  2. Ausbeutung!
    Burnout-Quotensteigerung!
    Chronische Bildungssystemverarsche!

    Danke.

  3. Was ebenfalls ziemlich ungerecht ist, dass Jungen die Zivilidienst gemacht haben oder zur Bundeswehr gehen mussten, auch mit 25 kein Kindergeld mehr bekommen. Sie konnten so in der Regel erst ein ganzes Jahr später mit dem Studium beginnen als z.B Mädchen. Wenn man mit 6,5 eingeschult wurde, normal Abi gemacht hat, Zivildienst oder Wehrdienst abgeleistet hat und trotzdem nur in der Regelzeit studiert hat, hat man kaum eine Chance mit 25 fertig zu sein. Da nutzt es auch nichts wenn, die 9 Monate angerechnet werden, weil es fehlt ein ganzes Jahr. Man sollte dann wenigstens bis zum Ende des Studiums in der Regelstudienzeit Kindergeld für diese Fälle bekommen.

  4. Musterstudent

    Ja die Umsetzung des Praxissemesters ist sehr ungerecht. Was ist mit den Studenten, die Familienangehörige pflegen, Kinder haben etc. Sie müssen oftmals noch mehr arbeiten als andere. Kinderbetreuung ist teuer. Ca. 150 Euro Kitabeitrag plus Stadtbeitrag ist die Regel. Wie soll ein Student all diesen zusätzlichen Aufgaben bewältigen und das auch noch im unbezahlten Praxissemester?
    Ich bin überzeugt, dass das Praxissemester dazu dient Personalkosten im Schulwesen zu sparen. Denn das Argument, es gebe zu wenig Praxis überzeugt nicht.Schließlich werden schon drei Praktika verlangt ehe man ins Referendariat eintreten darf. Da ist es umso unverständlicher, warum das Praxissemester so umfangreich sein muss. Ich habe nicht das Gefühl zu wenig Erfahrung in der Schulpraxis gemacht zu haben. Das Praxissemester liegt noch vor mir. Genauso ist es unlogisch ein Eignungspraktikum vor dem Ref von Studenten zu verlangen, die zum Beispiel aufgrund von Hochschulwechsel oder anderen Studienverläufen zeitlich nicht dazu gekommen sind , dieses sogenannte Eignungspraktikum zu absolvieren, aber alle anderen Praktika inklusive des Praxissemesters erfolgreich absolviert haben. Dieses Ausbildungssystem ist unflexibel und unlogisch.

  5. Studentin Uni Wuppertal

    Das Praxissemester ist an sich eine tolle Gelegenheit sich auszuprobieren und endlich mal in die Praxis zu gehen. Es kann unheimlich viel Spaß machen und ist gar nicht so schlecht, wie es immer dargestellt wird.
    Jedoch ist die Umsetzung immernoch noch nicht gut durchdacht. Wer nebenbei noch arbeiten muss und Kurse in der Uni belegt, hat ein zeitliches Problem.
    Die Aufgaben in der Schule sind (bei mir zumindest) auf jeden Fall zu bewältigen und fair. Jedoch wird in der Uni viel zu viel verlangt. Es kommt natürlich immer auf die Fächer und Dozenten an, aber man muss fast in jedem Fach an unserer Universität an einem Forschungsprojekt arbeiten. Wer dazu dann noch so viel wie möglich unterrichten will, was bei mir der Fall ist, wird kaum Zeit finden für die Erledigungen der Universität.
    Summa summarum, die Umsetzung hat sich in den letzten Jahren nicht wirklich verbessert und ist nicht studentenfreundlich. Außerdem wäre eine Entlohnung garnicht so verkehrt.

  6. Leider muss ich den Kritikpunkten recht geben. Das Praxissemester sollte aufgrund der hohen Anforderungen seitens Universität und Zfsls, finanziell entlohnt werden!
    Da sich dieser Wunsch jedoch in den kommenden Jahren vermutlich nicht erfüllt, rate ich allen Studenten/innen dazu das Praxissemester am Ende des Masters bzw. nach Beendigung aller verpflichtenden Kurse zu absolvieren. Dies erspart euch enorm viel Stress und Zeit. Vielleicht lässt sich so auch die Masterarbeit mit den praktischen Unterrichtsteil verbinden! Zudem könnte der „freie“ Unitag für einen Nebenjob genutzt werden.

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