Letztendlich ist der Bürger der Souverän

Eine direkte Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungen ist immer wieder ein Thema. Das Spektrum reicht dabei von der Beteiligung an Planungsprozessen bei Bauvorhaben bis hin zu Volksentscheiden. Dabei ist angesichts kontroverser Wahlausgänge und polarisierender politischer Bewegungen eine stärkere Einbindung von Bürgern ein durchaus auch umstrittener Aspekt. Über das Konzept von Bürgerbeteiligungsverfahren, deren Entwicklung und die Situation im aktuellen politischen Diskurs sprachen wir mit Christophe Kaucke vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung.

Ein Gespräch mit Christophe Kaucke vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung

Hares Sarwary: Zu Beginn würde ich für unsere Leser um eine kurze Vorstellung der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung bitten. Was sind deren Ziele und Aufgaben?

Christophe Kaucke: Wir haben unterschiedliche Aufgaben. Einerseits gibt es den Bereich den Herr Dr. Mittendorf leitet, das sind Datenbanken zum Thema Bürgerbeteiligung. Also wo findet Bürgerbeteiligung statt, wo hat es in der Vergangenheit stattgefunden, wie unterscheidet sich das von Land zu Land, von Kreis zu Kreis usw. Andererseits haben wir den ganz großen Part Planungszellen. Diese wurden in den 70-iger Jahren vom mittlerweile leider verstorbenen Prof. Dr. Dienel entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von aleatorisch ausgewählten Bürgern, bei uns in der Regel 50 – aufgeteilt in zwei Gruppen á 25 Personen, welche in einem Zeitraum von drei bis vier Tagen über ein spezifisches Thema diskutieren. Dazu hören sie pro Arbeitseinheit (vier am Tag) zwei Expertenvorträge. Anschließend beantworten und diskutieren sie zu diesen in zufällig ausgelosten Kleingruppen. Danach werden die Ergebnisse der Kleingruppen im Plenum vorgestellt und innerhalb dessen mittels einer digitalen Abstimmung via Tablets gewichtet. Man kann sich natürlich fragen: Warum machen die das? Der Hintergrund ist an einem plakativen Beispiel zu erläutern: Stuttgart 21. Dieses Projekt hat gezeigt, dass hier Bürger nicht an einem Prozess beteiligt wurden, welcher dennoch eine sehr große Relevanz für sie hatte. Dadurch, dass die Bürger quasi vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, hatte man schnell eine Opposition von Bürgern, welche sich zusammenschlossen, mittels Bürgerinitiativen das Projekt hinterfragten und ihre Bedenken öffentlich wirksam platzierten. Unsere Verfahren zielen darauf ab, solche Prozesse ergebnisoffen im Dialog mit den Bürgern anzugehen. Über die Einwohnermeldeämter werden hierzu nach dem Zufallsprinzip Bürger eingeladen, woraufhin sich diese melden und sagen können: „Ich möchte teilnehmen, das interessiert mich“. In der Regel ist damit das Angebot verbunden, sich dies als Bildungsurlaub anrechnen zu lassen. Das Ziel ist eine relativ repräsentative Gruppe zu bilden, die dann das jeweilige Thema multiperspektivisch diskutiert und informiert erörtert. Wir versuchen dann über die schlussendliche Gewichtung unterschiedliche Standpunkte offen zu legen und gegebenenfalls neue Perspektiven zu entwickeln. Also wir fragen nicht: „Sind die Bürger jetzt dafür oder dagegen?“, sondern wir möchten aufzeigen: „Was ist möglich und was nicht? Wie könnte es alternativ aussehen? Was wurde in dem Prozess eventuell nicht berücksichtigt, was wurde berücksichtigt?“ Das ist einerseits gut, weil es einen Diskurs und unterschiedliche Perspektiven darstellt und das Thema innerhalb der Gesamtgesellschaft noch mal präsenter macht, andererseits natürlich auch Sachen zu Tage bringt, die bisher nicht bewusst waren. Wir hatte ein Bürgerbeteiligungsprojekt in München, da ist z.B. herausgekommen, dass verschiedene Gruppen bei einem neu geplanten Landschaftspark an gewissen Stellen Beleuchtung haben wollen. An sich trivial, wo man denkt „ja ist doch klar, Beleuchtung“. Nur die Architekten hatten das bisher nicht auf dem Schirm. Oder, dass Parkbänke nicht nur von alten Leuten gefordert werden, sondern auch von jungen, weil man auf Parkbänken z.B. arbeiten kann. Also gibt es unterschiedliche Interessen, die nicht immer ganz so Berücksichtigung finden, weil die Politiker und die Planer mit einem gewissen Tunnelblick durch die Welt gehen.

HS: Hinsichtlich der gewünschten Multiperspektivität und Bezug nehmend auf das Thema der Artikelreihe, speziell zum Aspekt „Populismus“: In wie weit kann der beobachtbare Anstieg populistischer Bewegungen eine Herausforderung für Bürgerbeteiligungsverfahren sein?

CK: Was wir feststellen ist, dass die Bürger vereinfachend gesagt „lauter“ werden. Sie äußern eine Meinung. Damals in den 70-iger Jahren hat das ja schon angefangen, aber davor und zeitweise war es oft so: Die Politik war da und die hat entschieden, alle paar Jahre ging man wählen. Heute traut sich der Bürger, auch mit Sicherheit durch das Internet, eine Meinungsäußerung zu und diese auch wirksam kundzutun. Dadurch hat er ein größeres Sprachrohr. Heute können Tweets Sachen „bewegen“. Diese Meinungen waren mit Sicherheit auch damals schon da, vielleicht in einem anderem Grad, aber heute kommen sie durch diese neue Formation der Medienlandschaft lauter zum Tragen. Was die Politik feststellt, ist, dass bei größeren Planungsverfahren, sei es hier in Wuppertal die Seilbahn oder einem Landschaftspark in München oder vielen, vielen anderen Projekten, die Bürger gerne gehört werden möchten. Dass Bürger gerne mit einbezogen werden und nicht einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden möchten, nach dem Prinzip: „Wir haben hier mal einen Bebauungsplan und übrigens brauchen wir deinen Garten“. Das ist wichtig. Und über unsere Verfahren können wir das „sprachbar“ machen und, ich will nicht sagen abmildern, aber den Versuch unternehmen, dies in eine vernünftige Diskussion zu führen.

HS: Also ist im Grunde die Frage von mir fast schon falsch herum gedacht, weil der Anstieg an populistischen Diskursen auf einem bereits vorhandenen Willen von Bürgern zur Beteiligung basiert?

CK: Ja, die Leute wollen erst einmal was sagen. Populismus ist zunächst mal ein relativ negatives Wort, ich würde das Ganze vielleicht abstrahieren und sagen, die Leute wollen etwas äußern – einen Standpunkt. Und Populismus ist dann die Vereinfachung dieses Standpunktes mit oft minder gut fundierten und verschleierten Argumenten. In einer Demokratie hat jeder das Recht seine Meinung im Rahmen der Verfassung, bei uns dem Grundgesetz, zu äußern, unabhängig ob jemand sie teilt oder nicht. Wir versuchen in unseren Verfahren diese Meinungen auf ihre tatsächlichen Argumente zu reduzieren. Also einen sachorientierten Diskurs herzustellen. Dafür sind solche Bürgerbeteiligungsverfahren gut. Natürlich wird dies begünstigt, wenn die Öffentlichkeit das durch Presse, Medien, Bürgerschaft usw. begleitet. Wichtig ist zudem ein unabhängiger Durchführungsträger. Wenn wir beauftragt werden, seitens der Politik oder Organisationen, sagen wir konkret: Wir sind ergebnisoffen – wir sind keine Werbeagentur. Also das, was die Bürger euch erzählen und wir dann zusammen mit den Bürgern in ein Gutachten gießen, ist nicht unbedingt das, was ihr hören wollt. Aber das gehört meines Erachtens zu einem lösungsorientierten demokratischen Diskurs dazu.

HS: Dazu passend ist meine nächste Frage, man sieht, dass insbesondere auch sehr konservative und nationalistische Bewegungen häufig direktdemokratische Verfahren fordern. Was können Gründe für ein solches Interesse aus diesem politischen Spektrum sein?

CK: Im Grunde ist es ein Versuch solcher Gruppen durch diese Verfahren ihre Ansichten mit plakativen Aussagen durchzusetzen. Deswegen fußen unsere Verfahren hingegen alle auf einer informierten Bürgerschaft. Wir sagen nicht: „Kommt her und habt eine Meinung und dann stimmen wir darüber ab.“ Wir sagen: „Wir geben euch Informationen. Und wenn ihr diese Informationen habt, sie reflektiert, mit unterschiedlichen Standpunkten vergleicht und hinterfragt, dann ist die Qualität der Äußerungen insgesamt deutlich hochwertiger.“ „Populistische“ Parteien versuchen diesen Prozess oft auszuklammern und fragen zum Beispiel: „Wollen sie die Grenze zu machen?“. Ohne vorher zu beleuchten: Was heißt das denn? Was hat das für Konsequenzen im europäischen Binnenverhältnis? Was hat das für Konsequenzen für die Leute selber? Ist das denn überhaupt rechtlich machbar? Die Fragen werden oft so fadenscheinig populistisch formuliert, um eine gewolltes Resultat herzustellen.

Im Grunde reden wir von jemandem der informiert ist

HS: Damit ist der Bezug zu einem weiteren Thema gemacht, dem BREXIT. Dieser ist ja ein aktuelles und kontroverses Beispiel eines Bürgerreferendums. Bei der anschließenden Diskussion war gerade der Aspekt der informierten Bürgerschaft ein Thema, man hörte häufiger die Aussage, dass Leute abgestimmt haben, obwohl sie gar nicht richtig informiert waren.

CK: Es gab ja auch die Forderung, sie doch jetzt noch ein zweites Mal abstimmen zu lassen, weil jetzt die Zahlen da sind. Kürzlich hat die EU, beziehungsweise Herr Oettinger, beispielsweise Nachforderungen in Milliardenhöhe an Großbritannien gestellt. Das sind Zahlen, die waren beim BREXIT nicht auf dem Tisch. Und natürlich wurde das Ganze auch, das kann man durchaus sagen, sehr populistisch geführt. Sprüche von Boris Johnson in der Art: „Eine Woche Mitgliedschaft in der EU kostet uns gefühlt die neue Hüfte deiner Großmutter“.

HS: Also können populistische nennen wir es mal „Verkürzungen“ das Problem mit sich bringen, dass die Leute dann zu wenig informiert sind?

CK: Genau. Das setzt natürlich voraus, dass die Leute grundsätzlich bereit sind sich zu informieren, also auch gewillt sind Informationen aufzunehmen und unterschiedliche Standpunkte zu reflektieren. Im Grunde reden wir von einem klassischen Lockeschen Bürger. Wir reden von jemandem, der informiert ist. Auch wenn man einen akademischen Hintergrund hat, man kann sich nie 100%ig den Auswirkungen einer Entscheidung bewusst sein, die man trifft. Politik bedeutet immer, dass man auch gewisse Unwägbarkeiten in Kauf nimmt. Aber man kann versuchen, diese zu reduzieren und dazu braucht man auch eine informierte Bürgerschaft. Und wenn man das über Bürgerbeteiligung schafft, ist das meines Erachtens normativ sehr sinnvoll. Aber wenn man das Ganze zu sehr zuspitzt, dann setzt man sich nicht mit dem jeweiligen Problem auseinander und daraus resultiert die Gefahr, dass das Ganze wieder zu Politikverdrossenheit führt. Simple Antworten klingen schön, aber vieles ist nicht immer so ganz einfach. Vieles ist aber auch nicht immer so komplex, wie man sagt. Man kann komplexe Sachverhalte durchaus didaktisch sinnvoll aufbereiten. Darauf zielt unser Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung ab. Der Vorteil unserer Planungszelle ist dabei, dass unsere Verfahren nicht nur die sogenannten Bildungsbürger erreichen, sondern über die Aleatorik die breite Bevölkerung als Ganzes.

HS: Angesichts der diesjährigen Landtags- und Bundestagswahlen, inwieweit ist das Thema Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie dort Thema? Ist das im Gespräch?

CK: Es lässt sich schon feststellen, dass in der letzten Zeit Bürgerbeteiligung größere Resonanz in der Politik erfährt. Bei Ausschreibungen findet sich jetzt schon z.B. häufiger die explizite Forderung: „Ihr müsst Bürgerbeteiligung machen“. Wir hatten im letzten Jahr ein Projekt, wo wir von der Landtagsfraktion der Piraten-Partei beauftragt worden sind, die politische Dimension der Weiterentwicklung der nordrhein-westfälischen Verfassung deutlich zu machen und da war auch Bürgerbeteiligung ein großer Aspekt. Wir haben dabei auch den bereits angesprochenen Punkt deutlich gemacht, dass wenn man Bürger informiert usw., Bürgerbeteiligung ein ausgesprochen sinnvolles, den Diskurs förderndes Mittel ist. Und das Bewusstsein dafür steigt. Andererseits muss man natürlich auch sagen, es gibt durchaus Parteien, die Bürgerbeteiligung gerne missbrauchen möchten. Herr Prof. Lietzmann, der Leiter unseres Institutes, wurde vor einigen Wochen im Radio interviewt, zugleich mit einem Herrn von der CSU, welcher Bürgerbeteiligung forderte. Allerdings mit dem expliziten Unterton, wir brauchen Bürgerbeteiligung, um unsere eigene Politik durchzusetzen. „Bevor wir die Bürger fragen, wissen wir im Prinzip schon worüber abgestimmt wird.“ Das ist meines Erachtens ein Missbrauch von Bürgerbeteiligung, weil es nicht ergebnisoffen ist. Man muss sich deshalb jedes Mal ganz konkret anschauen, reden wir von Top-Down Bestätigungssuche oder von Bottom-Up Beteiligung.

HS: Weil da auch die Informiertheit fehlt?

CK: Ja, und insofern gibt es komplett unterschiedliche Auffassungen von direkter Demokratie/Bürgerbeteiligung und so weiter. Die Parteien fordern das alle ganz gerne. Man muss sich aber wirklich anschauen: Was fordern die eigentlich tatsächlich?

HS: Zum Abschluss würde ich gerne auf die Zukunft der Bürgerbeteiligung eingehen. Ziel des Instituts scheint unter anderem zu sein, solchen Verfahren zu mehr Präsenz zu verhelfen und den Diskurs zu fördern. Sieht man dahingehend positive Entwicklungen, dass das mehr aufgenommen und angenommen wird?

CK: Ich denk ja, das ist so unsere Wahrnehmung. Die Akzeptanz seitens der Politik ist deutlich gewachsen. Wir haben früher oft festgestellt, dass die kommunalen oder andere Verwaltungen Bürger im Endeffekt betrachtet haben als: „Mit denen müssen wir irgendwie leben, die sind da und die machen Ärger“. Bürger sind aber in einem demokratischen Land, die, die Politik letztendlich bestimmen. Sie wählen und sie sind der Souverän. Und das kommt zunehmend an. Auch weil einfach festgestellt wird, dass Bürgerinitiativen, wenn sie populistisch und geschickt geführt werden, durchaus ganze Projekte zum Wanken bringen können und man das Ganze sinnvoller aushandeln muss. Für manche Parteien ist es ein Problem zu realisieren, dass, auch wenn sie vom Volk gewählt werden, sie nicht immer den Volkswillen vertreten. Oder in der Art: „Ich bin eine Partei, mich haben 30% gewählt, also bin ich das Volk“. Das ist ein Trugschluss. Was so unsere Wahrnehmung ist, dass Verwaltungen, aber auch andere Organisationen, zunehmend den Wert von Bürgerbeteiligung erkennen. In dem Sinne: A) wir sehen etwas, was wir vorher noch nicht auf dem Schirm hatten und B) wir können, wenn wir es ergebnisoffen halten, wirklich einen sinnvollen Diskurs innerhalb der Stadt hinbekommen und das jeweilige Projekt besser machen. Die Sprache wird viel, viel sachlicher … angenehmer. Man ist weniger populistisch, man ist mehr sachorientiert. Für eine kluge Politik, also zumindest für meine Vorstellung von kluger Politik, kann das nur dienlich sein. »hs«

Titelbild: Christophe Kaucke studiert im Master of Education Mathematik und Sozialwissenschaften an der Bergischen Unviersität Wuppertal. Er ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung. © Kaucke

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