„Der gute Mensch von Sezuan“ – die Moderne trifft auf ewige Fragen

Ein Mac-Book steht auf einem alten Flügel. Grobes Baustahlgitter trennt das Publikum von der schräg geneigten, dekorationsfreien Bühnenrampe. Die Darsteller sprechen von der Summe auf einer EC-Karte und demonstrieren geschickte Körperbewegungen und kräftige Stimmen. Das alles und noch viele weitere Überraschungen erwarteten rund 350 Zuschauer des Opernhauses in Rahmen der großen Premiere des wohl bekanntesten und zeitlosen Theaterstücks von Bertolt Brecht – „Der gute Mensch von Sezuan“.

Seit der Erstaufführung des Brecht’schen Parabelstücks in Zürich sind nun über 70 Jahre vergangen, doch die von ihm angesprochene Frage ist aktueller denn je – ist es möglich in einem kapitalistischen Ausbeutungssystem als guter, barmherziger Mensch zu überleben, ohne den Glauben an die Nächstenliebe zu verlieren? Den vielschichtigen Konflikt des Individuums mit dem Ich-Sein und der unberechenbaren Außenwelt präsentiert der Regisseur Maik Priebe auf der Wuppertaler Bühne möglichst ungeschmückt, transparent und realistisch – ganz nach dem bekannten Motto „Weniger ist mehr!“

„Der gute Mensch von Sezuan“ – ein soziales Drama

© Klaus Lefebvre

Drei Götter (Judith van der Werff, Alexander Peiler und Julia Reznik) sind in der chinesischen Provinz Sezuan auf der Suche nach einem guten Menschen. Sie finden eine Unterkunft bei der Prostituierten Shen Te (Lena Vogt). Für ihre Barmherzigkeit bezahlen sie die Gäste großzügig und nehmen ihr das Versprechen ab, von diesem Tag an nur noch Gutes zu tun. Von dem Geld kauft sich die Frau einen Tabakladen, um ihren ehemaligen Beruf endgültig aufzugeben und ein neues Leben anzufangen. Weil Shen Te aber eine gute Seele ist, wird sie von ihren Bekannten hemmungslos ausgenutzt und steht bereits nach kurzer Zeit wieder vor dem Aus. Sie verliebt sich in den stellungslosen Flieger Yang Sun (Lukas Mundas) und wird schwanger. Doch er selbst ist nur hinter ihrem Geld her und verlässt sie am Hochzeitstag. In ihrer Not gibt sich Shen Te als ihr Vetter Shui Ta aus, welcher im Gegensatz zu ihrer weichherzigen Seite eine gnadenlose Person ist und nur an den Eigennutz denkt. Er vertreibt die Schmarotzer und baut ein eigenes großes Geschäft auf Kosten der Anderen auf. Eines Tages fliegt ihr Geheimnis auf und sie offenbart vor dem Gericht, ihren Freunden und den Göttern ihre doppelte Identität und sagt, dass es unmöglich ist, immer nur gut zu anderen zu sein, ohne dabei an eigene Grenzen zu stoßen und sich selbst zu zerstören. Die Götter hören ihr aber nicht zu und entziehen sich – der Himmel hat versagt.

„Invasion europäischer Gebräuche“

© Klaus Lefebvre

Die requisitenlose Bühne repräsentiert das Wenige, was die Menschen (in Sezuan) besitzen. Die wenigen Versatzstücke werden nur bei wichtigen Handlungswendungen eingesetzt – wie eine kleine, kaum bemerkbare chinesische Glückskatze, die mitten im Geschehen auftaucht. Man könnte meinen, sie soll dem frisch vermählten Ehepaar auf der Bühne Glück bringen und den Zuschauern ein gutes Ende prophezeien …

Die Götter treten im Kontrast zu der grauen Masse der Sterblichen mit lässigen Pilotenbrillen und hellblauen Krawatten auf. Damit scheint selbst der Himmel von der „Invasion europäischer Gebräuche“, wie Brecht als Notiz im Jahre 1940 schrieb, nicht verschont zu bleiben. Generell haben alle Figuren unter ihrer alltäglichen Kleidung ein Outfit an, welches in der westlichen Welt mittlerweile als eine Business-Uniform etabliert wurde – eine schwarze Hose und weißes Hemd – durch diese geschickte Anspielung wird der unaufhaltbare Prozess der Globalisierung verdeutlicht.

Akrobatik auf der Theaterbühne und „Gotham City“

© Klaus Lefebvre

Stefan Leibold sorgte mit der musikalischen Begleitung für eine besondere Atmosphäre, welche wohl kaum einem Zuschauer innerhalb der dreistündigen Aufführung entgangen ist. Mithilfe zweier Orgeln und zweier Flügel, eines Mac-Books und einer Eigenerfindung, welche den Namen „Gotham City“ trägt und die Form einer kleinen futuristischen Zeitmaschine hat, erschafft er eine Soundkulisse, welche jede Handlung und Textpassage hervorhebt und für die entsprechende Stimmung sowohl auf der Bühne als auch im Saal sorgt.
Durch die Performance der Tänzer des Tanzhauses Wuppertal wird die ohnehin fesselnde Handlung noch lebendiger, aussagekräftiger und spannender. Der Choreograf Ateş Kaykilar schaffte es mit seiner Truppe ein Casting zu gewinnen und nun durften die Zuschauer mehrere eingebaute Tanz- und Akrobatikelemente wie ein Salto, Rollen und Spagat im klassischen Theaterstück bestaunen. Tanzen und Singen lagen an diesem Abend nah beieinander und so bekam der singende Pilot Yang Sun noch während der Vorstellung eine eigene Applauswelle für seine kräftige, durchdringende Stimme und die Emotionen, die er als heimtückischer Stratege und künftiger Vater herausschreien wollte.

„Der gute Mensch von Sezuan“ – alte Visionen, neue Wahrnehmung

© Klaus Lefebvre

Maik Priebe schaffte es mit seiner Aufführung des zeitlosen Stücks die Kernideen Brechts innovativ und mit frischen Ideen aufzupeppen und auf die modernen Zuschauer so anzupassen, dass die Authentizität trotzdem erhalten bleibt. So diskutieren Shen Te und die ehemaligen Ladenbesitzerin im Jahr 2017 über eine Geldsumme, welche sich auf einer EC-Karte befindet und der arbeitslose Pilot flucht vor sich hin mit einem kaum hörbaren „Alter!“. Natürlich wäre „Der gute Mensch von Sezuan“ kein Brecht’sches Stück, wenn der Regisseur dem vom Dramatiker selbst eingeführten „Verfremdungseffekt“ (= bewusst eingebaute Unterbrechungen durch direkte Ansprache des Publikums) nicht eine entscheidende Rolle überlassen hätte. Bei der letzten Gerichtsszene ging Priebe sogar einen Schritt weiter und ließ das Publikum Teil der Vorstellung werden, indem die Bewohner von Sezuan über die arme Shen Te direkt aus dem Saal urteilten. Diese Szene schloss das Stück ab, doch lieferte keine Antworten auf zahlreiche Fragen, die in den Augen der 350 Zuschauer zu lesen waren. Die Götter zogen sich zurück, doch die Zuschauer blieben sitzen – das kann doch nicht alles gewesen sein! Und erst nach lautem Applaus und begeistertem Ausrufen bemerkte das Publikum, dass die Performance noch nicht zu Ende war – im Flur verteilten die Darsteller kleine grüne Zettel mit dem Epilog, welches selbst nach dem Spielende zum Nachdenken anstiften soll – „Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? (…) Verehrtes Publikum, los, such den Schluss. Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“ »xedel«

Titelbild: Nichts ahnende Menschen von Sezuan (J. Reznik, P. Pachl, S. Walz und Ensamble) © Klaus Lefebvre

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