Talgesichter: „Weite in unser gesellschaftliches Miteinander bekommen“

Ulrich Halstenbach, Co-Gründer des Start-ups Workstadt GmbH, bezeichnet sich selbst in erster Linie als Unternehmer, wobei er den Begriff offen verstanden wissen möchte. So rief er als Kunstunternehmer wenige Wochen nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zusammen mit dem Galeristen Jürgen Grölle die Wuppertaler "Postnukleare Aktionstage" - ein internationales Kunstevent - ins Leben. Mit seiner cyt e. V. gelang es ihm, das erste Mehrgenerationenhaus in Deutschland, in dem ein Studierenden- und Seniorenheim ineinander integriert wurden, nach Wuppertal zu holen. In den letzten drei Jahren hat sich Ulrich Halstenbach darauf konzentriert, neu ankommenden internationalen Fachkräften Zugang zum gesellschaftlichen Miteinander zu ermöglichen.

Ulrich Halstenbach - Foto: WorkStadt Wuppertal

blickfeld: Welcher Begriff von der Holsteiner Treppe sagt dir am meisten zu?

Ulrich Halstenbach: Es ist der Begriff Weite. Weite anzustreben ist ein Lebensprinzip.

blickfeld: Und worin drückt sich das für dich aus?

Ulrich Halstenbach: Ich glaube, dass unser Bewusstsein dazu neigt, Kategorien zu erzeugen, in denen wir die Welt verstehen. Aber jede Kategorie, die wir erzeugen, macht die Wirklichkeit eng. Unser Gehirn versimplifiziert die Komplexität unserer Welt permanent. Und gleichzeitig verbirgt uns unser Gehirn diese Simplifizierung, die es vornimmt. Die Wirklichkeit ist viel, viel weiter als das, was uns präsentiert wird. Es braucht eine permanente Aktivität des Öffnens, um mit der Weite der Welt im Kontakt zu bleiben. Sonst entzaubern wir sie durch unseren Verstand und machen sie schlicht und eng. Und in dieser simplen, engen Welt mag ich nicht gerne bleiben.

In Heimat Weite erlangen

blickfeld: Du bist Ur-Wuppertaler und lebst hier dein ganzes Leben lang. Was hat dich dazu angetrieben, dich hier niederzulassen und hier zu betätigen?

Ulrich Halstenbach: Nach meinem Abitur mit 17 ging ich für ein Jahr nach Südostasien, später nach Amerika und auf die Kanarischen Inseln. Ich war viel unterwegs und bin gerne gereist. In der Zeit habe ich mich eher als einen Aussteiger erlebt, ohne gesellschaftliche Bindungen und Verpflichtungen. In meinen frühen Zwanzigern hatte ich mich aber entschieden, doch Einsteiger zu werden und einen Beruf zu erlangen, Familie zu gründen und ein Leben in Wuppertal zu starten, weil das die Stadt ist, in der ich geboren bin und für die ich mich an einem Punkt entschieden habe.

Ulrich Halstenbach mit Stephan Anpalagan und Lionel Benny von Demokratie in Arbeit gGmbH bei der jährlichen WorkStadt Convention – Foto: WorkStadt Wuppertal

blickfeld: Hast du nun in der Stadt, wo du geboren wurdest, auch Weite erlangen können?

Ulrich Halstenbach: Da komme ich auf den Begriff Heimat. Was ist mit diesem Begriff gemeint? Als Begriff beschreibt er eine Kategorie. Wenn ich Menschen aus anderen Ländern begegne, dann erscheint er sozusagen „Fern-seiner-Heimat“, er kommt jetzt in unsere Heimat. Das ist bereits eine Wirklichkeitsverengung. Wie gehen wir mit Menschen um, die sagen „Ich will hier heimisch werden“? Wie verändert sich dadurch unser Konzept von Heimat, hat die Kategorie Platz für Menschen, mit denen wir unsere Heimat teilen, für die sich Heimat vielleicht auch anders anfühlt? Mich hat schon immer sehr inspiriert, wie Heimat und Weite auch als Begriffe zusammengehören. Früher waren sie für mich getrennt, aber ich habe schon als junger Mensch erlebt, dass es da eine Verbindung gibt.

Weite in gesellschaftliches Miteinander bekommen

blickfeld: Worin besteht dein Beitrag zu Wuppertal?

Ulrich Halstenbach: Es gibt unterschiedliche Bereiche, in denen ich aktiv bin, aber aktuell interessiert mich am meisten, wie man Wuppertal zu einer weltoffenen, zugänglichen Stadt macht, die ihr Potenzial nutzt, um internationale gut ausgebildete Fachkräfte einzuladen und einen Lebensraum für sie zu schaffen. Das hat viel mit Integration zu tun. Das Wort benutze ich normalerweise kaum, weil viele es so verstehen, als würden da Menschen kommen, die sich integrieren oder integriert werden sollen. In den Sozialwissenschaften bedeutet Integration aber Barrieren abbauen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindern. Dieses Abbauen von Barrieren ist die Aufgabe von unserer Gesellschaft und da helfe ich gerne dabei. Das geht los mit Sprachbarrieren. Ich glaube, wir sollten offener werden, mit Menschen aller möglichen Sprachhintergründe zu kommunizieren. Deutschland ist ein Land mit einem monolingualen Habitus und in Wuppertal halte ich den für relativ ausgeprägt. Also sicherlich ausgeprägter als in Baden-Württemberg und Berlin zum Beispiel, wo es normaler ist, international zu kommunizieren, in der Sprache, in der es gerade am besten funktioniert.

blickfeld-Reihe „Talgesichter“

Holsteiner Treppe – Foto: xedel

In unserer Reihe „Talgesichter“ interviewt die blickfeld-Redaktion Wuppertaler Persönlichkeiten, die kulturell, sozial oder auf anderer Ebene zum gesellschaftlichen Miteinander in unserer Stadt beitragen. In den Beiträgen sprechen wir mit ihnen über ihr Engagement und über die Zukunft der Stadt.

Die bunte „Holsteiner Treppe“ in Elberfeld dient als verbindendes Element der Reihe. Ihre 112 Stufen verbalisieren Emotionen, die an der Stirnseite in Versalien des Schrifttyps „Humanist“ montiert sind. Geschaffen wurde das Kunstwerk mit dem Namen „SCALA – Der Gefühle“ vom Düsseldorfer Künstler Horst Gläsker. Die Gesprächspartner:innen der Reihe wählen vorab einen der dort abgebildeten Begriffe, der im Beitrag vertieft wird.

Die Reihe wird im gesamten Jahr 2025 fortgesetzt. Die blickfeld-Redaktion freut sich über Vorschläge für Wuppertaler Persönlichkeiten sowie auf Initiativen von Bürger:innen, die selbst Porträts im Rahmen der Reihe „Talgesichter“ veröffentlichen möchten. Interessierte können sich hierzu unter redaktion (at) blickfeld-wuppertal.de melden.

blickfeld: Welche Baustellen gibt es noch, abgesehen von Sprache?

Ulrich Halstenbach: 56 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Wuppertal haben einen Migrationshintergrund. In der Gruppe der 20 bis 50-jährigen Bevölkerung wird das etwas weniger sein, aber eigentlich sollten wir jetzt rein statistisch gesehen 30 bis 40 Prozent unserer Kommunikation mit Menschen aller möglichen nationalen Hintergründe haben. Ich glaube das haben wir aber oft nicht. Wir kommunizieren noch weitestgehend in unseren Bubbles innerhalb traditioneller Bekanntenkreisstrukturen. Und eine dieser Bubbles ist diejenige der vielen Deutschen, die zum größten Teil nur mit anderen Deutschen kommunizieren und vielleicht nur drei oder sieben Prozent der Kommunikation mit Menschen aus anderen Nationen pflegen. Viele ganz neu ankommende Menschen sollten eigentlich auch mit uns in Kontakt kommen, das passiert aber oft nicht, da sind wir ein sperriges Völkchen.

Wuppertal hält relativ wenige internationale Studierende am Ende ihres Studiums in der Region. Das heißt, viele internationale Studierende finden hier anschließend keinen Arbeitsplatz und gehen irgendwo anders hin – da fragt man sich warum? Warum sind nicht nur andere Länder, sondern auch andere Universitäten besser darin, internationalen Studierenden den Übergang zu ermöglichen? Ein Heimischwerden inklusive sich Niederlassen, Familie gründen, Arbeit finden etc. Was hat es mit uns zu tun, dass es so ist, wie können wir da besser werden, wie können wir da Weite in unser gesellschaftliches Miteinander bekommen?

In den 70er und 80er Jahren habe ich Wuppertal über die Jazz- und Pina Bausch-Szene sehr weltoffen erlebt. Das können wir jetzt wieder kreieren über die vielen großartigen Firmen, die wir in Wuppertal haben. Wir stehen deutschlandweit auf Platz 5 in der Anzahl der Hidden Champions. Wir haben extrem viele marktführende Unternehmen, die internationale Fachkräfte anziehen. Wir sind eine sehr innovative Region, auch wirtschaftlich, nicht nur kulturell. Nicht zuletzt durch WorkStadt ist Wuppertal sehr innovativ in diesem Bereich.

blickfeld: Müsste sich noch etwas speziell an Wuppertal ändern?

Ulrich Halstenbach: Wir Wuppertaler haben einen sehr christlichen Hintergrund und wir sind sehr gut darin, Menschen mit großen Schwierigkeiten Hilfe anzubieten. Wenn aber Menschen kommen und sagen: ‚Ich kann euch helfen‘, dann erwischen sie uns auf dem falschen Fuß. Wir wissen gar nicht, wie wir mit diesen teils sehr kompetenten, gut ausgebildeten, selbstbewussten und lebenstauglichen Menschen aus aller Welt in Kontakt kommen, auf welcher Ebene wir das tun und wie wir uns von denen auch inspirieren und bereichern lassen. Da ist der Einzelne gefragt, als Nachbar, als jemand, dem man beim Einkaufen begegnet, jemand, den man regelmäßig auf dem Bürgersteig sieht. Die Art, wie wir uns grüßen, wie wir Kontakt miteinander aufnehmen. Hier fehlt mir oft die Begegnung auf Augenhöhe. Da haben wir ein großes Potenzial uns zu entwickeln als Herkunftsgesellschaft, und da möchte ich gerne dranbleiben. »ge«

Das Gespräch führte Evgenia Gavrilova

Kurzinfo: Was ist WorkStadt?

Die WorkStadt GmbH ist ein in 2021 gegründetes Start-up aus Wuppertal, das Unternehmen in der internationalen Rekrutierung befähigt und sie dabei unterstützt, internationale Mitarbeitende langfristig an die Region zu binden. Gemeinsam mit lokalen Akteur:innen aus Wirtschaft, Kultur und Politik gestaltet es langfristig ein gastfreundliches, zugängliches und bilinguales Lebensumfeld.

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