„Wir leben hier viel intensiver Demokratie, als dass es irgendeine Strukturform könnte“

David J. Becher ist Unterhaltungskünstler, Vorstandsvorsitzender des Fördervereins Utopiastadt e.V. und gebürtiger Wuppertaler. Im Gespräch mit der Community der internationalen Fachkräfte WorkStadt erläutert er die herausragenden integrativen Leistungen, die das Handwerk zu vollbringen vermag und Wuppertals unaufgeregte Art, alle Menschen sofort „ankommen“ zu lassen.

David J. Becher - Foto: Nils Kohnen

WorkStadt: Hallo David! Viele internationale Fachkräfte in Wuppertal waren wahrscheinlich noch nie in Utopiastadt und haben wenig Ahnung, was hier vor sich geht. Utopiastadt ist seit Beginn im Jahr 2011 zu einem Wuppertaler Vorzeigeprojekt in der Stadtentwicklung geworden. Was ist deine Rolle bei diesem 40.000 Quadratmeter großen Mammutprojekt?

David: Also in Utopiastadt habe ich zwei Rollen. Die eine ist: Ich bin Nachbar, also ich wohne einfach direkt gegenüber und war zuerst hier. 2006 bin ich an diesen Ort gezogen und 2011 kam Utopiastadt. Es hat mich dann schnell in seinen Bann gezogen. Als es darum ging, einen Förderverein aufzubauen, war ich da von Anfang an mit dabei und bin seither, in meiner zweiten Rolle, einer von drei gleichberechtigten Vorstandsvorsitzenden des Fördervereins Utopiastadt e.V..

“Utopiastadt ist ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung”

WorkStadt: Ihr bezeichnet euch selbst als „Utopisten“ und wir wissen, dass eine Utopie prinzipiell etwas nicht Erfüll- bzw. Erreichbares ist. Dennoch nehmt ihr in eurer Freizeit Werkzeug in die Hand, spaziert los, bringt Leute zusammen, als ob ihr doch ein sehr klares Ziel vor Augen hättet.

David: Es ist so: Utopiastadt hat in der Selbstbeschreibung auf dem Briefkopf stehen „Utopiastadt ist ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung“. Andauernder Gesellschaftskongress, weil hier ganz viele Leute zusammenkommen und sich miteinander, aneinander auseinandersetzen. Das passiert hier ständig.

Die Ambitionen haben wir vorne in den Namen geschrieben, „Utopia“, und die Wirkung hinten in den Namen, „Stadt“. Wir haben es uns also einfach gemacht. Die Frage nach der Utopie können wir nicht beantworten. Deswegen haben wir schlicht “Stadt” hinten drangeschrieben, weil wir gesagt haben: Das machen wir. Wir probieren es halt aus und dann scheitern wir vielleicht daran. Oder stellen fest, die Idee war zwar großartig, aber umgesetzt ist die blöd – und so weiter. Die Utopie bleibt so ein bisschen das Unerreichbare, aber vielleicht die Orientierung, das Ziel, die Suche nach der besten aller Städte. Das heißt, es gibt nicht so dieses eine große Ziel, aber es gibt die Richtung, in diesem andauernden Gesellschaftskongress zu versuchen, miteinander das Beste für alle rauszufinden.

David J. Becher mit Utopiastadt im Hintergrund – Foto: Nils Kohnen

WorkStadt: Also irgendwo ist der Weg das Ziel?

David: Man kann sehr sicher sagen, dass der Weg das Ziel ist, bzw. dass wir auf dem Weg die Ziele neu verhandeln, wieder- und weiterverhandeln, also im Prinzip in einer permanenten Auseinandersetzung sind. Keine Ahnung, ob deine Utopie dieselbe ist wie meine Utopie. Wenn wir aber beide hier was machen wollen, sollten wir gucken, ob wir vielleicht trotzdem in eine gleiche Richtung gehen, mal eine Zeitlang parallel oder dass wir uns vielleicht auch darüber streiten. Die Auseinandersetzung geschieht immer mit einem klaren Blick auf das Gemeinwohl. Was ist jetzt nicht nur für mich das Beste, sondern wie können möglichst viele andere davon profitieren oder daran teilhaben?

Projekt Workout oder warum am Wochenende nochmal arbeiten?

WorkStadt: Euer bekanntestes Projekt ist wahrscheinlich das Workout, weil da einfach jeder mitmachen kann, egal was er sonst macht oder woher er kommt. Alle können kommen und entrümpeln, bohren, bauen. Es ist nicht für alle offensichtlich, vor allem, wenn man nicht mit der deutschen Ehrenamtskultur vertraut ist, was eigentlich der gesellschaftliche Mehrwert dahinter ist, am Wochenende noch mal arbeiten zu gehen.

David: Das ist eine ganz interessante Frage: Warum machen wir hier das eigentlich? Oder warum kommen hier Leute hin, in ihrer Freizeit, und arbeiten nochmal? Machen Sanierungsarbeiten, für die man eigentlich auch Firmen bezahlen könnte? Und ich glaube, ich kann das am ehesten als Nachbar beantworten.

Ich wohne gegenüber und habe hier einen Ort gefunden, in dem ich ganz aktiv meine Stadt mitgestalten kann, wo ich meine Stadt mitverhandeln und mich verorten kann. Als ich 2006 hier hingezogen bin, war gegenüber eine Tankstellenbrache, danach kam eine Bahnhofsbrache und anschließend ein bisschen „Mad Max“-Land samt der Autobahn. Das war so ein „Deadend“ vom Wohngebiet und es war ganz angenehm, in der Anonymität der Großstadt zu leben.

Aber ich habe nicht viel zur Stadt beigetragen und war deswegen auf eine Art auch nicht besonders mit ihr verwurzelt. Das heißt: Die Möglichkeit, die Stadt mitzugestalten, sorgt gleichzeitig dafür, dass ich mich mit der Stadt ganz anders verbinde. Ich habe hier mit Menschen gesprochen, mit denen wäre ich auf der Straße wahrscheinlich nie ins Gespräch gekommen. Weil wir hier aber gemeinsam an unserem Bahnhof gearbeitet haben, dem Bahnhof, den wir für uns alle hier herrichten, an den Flächen, die wir für uns alle hier nutzbar machen – das hat uns wiederum zusammengebracht. Und ich sage immer: Auf einer Metaebene arbeite ich hier nicht daran, dass die Fenster bei dem Bahnhof wieder frisch lackiert sind, sondern ich arbeite an einem demokratischen Austausch. Ich komme hier mit Menschen in Begegnung, mit denen ich gemeinsam an der Gesellschaft arbeite und das ist das, was ganz häufig nicht passiert. Denn wir haben alle unseren Beruf, da machen wir dies, und dann haben wir noch alle unsere Freizeit und dann machen wir das. Und zwischendurch gehen wir wählen. Aber wo sind eigentlich die Orte, wo wir wirklich verhandeln, wie wir Gesellschaft zusammen machen wollen?

Natürlich könnte man hier nur einen Kongress veranstalten. Alle kommen mal hin, dann setzen wir uns in einen Kreis und reden über Demokratie, über Gesellschaft oder weiß nicht was. Wenn wir aber währenddessen an der Stadt arbeiten, an den Flächen werkeln, was ganz anderes machen und dabei ins Gespräch kommen, dann kommt viel mehr von dem, was uns wirklich bewegt. Und wir leben hier viel intensiver Demokratie, als dass es irgendeine Strukturform könnte. Ich glaube, deswegen ist es sinnvoll, Orte und Gruppen zu finden, die sich über das persönliche Vergnügen hinaus auch in der Freizeit engagieren möchten, um zu merken: Was ist eigentlich mit den anderen Menschen los? Und das machen wir hier in Utopiastadt.

Kurzinfo: Was ist WorkStadt?

Die WorkStadt GmbH ist ein in 2021 gegründetes Start-up aus Wuppertal, das Unternehmen in der internationalen Rekrutierung befähigt und sie dabei unterstützt, internationale Mitarbeitende langfristig an die Region zu binden. Gemeinsam mit lokalen Akteur:innen aus Wirtschaft, Kultur und Politik gestaltet es langfristig ein gastfreundliches, zugängliches und bilinguales Lebensumfeld.

Handwerk als universelle Sprache, um in Wuppertal anzukommen

WorkStadt: Glaubst du, dass Utopiastadt dazu beiträgt, auch Wuppertal als Stadt gastfreundlicher zu machen?

David: Also ich bin mir sicher, dass Utopiastadt dazu beiträgt, weil wir hier grundsätzlich für alle offen sind, die mitmachen wollen. Wir brauchen tatsächlich auch alle, die mitmachen wollen, weil sonst kommen wir hier nicht voran. Wir können es uns nicht leisten, die Leute für alles zu bezahlen, was hier zu erledigen ist. Das wollen wir auch gar nicht, weil wir hier gemeinsam die Stadt gestalten wollen.

Das heißt also, wenn ich in Wuppertal ganz neu ankomme und ich gehe zum Workout von Utopiastadt, gibt mir im Zweifelsfall jemand einen Spachtel in die Hand und nimmt mich mit aufs Gerüst. Da können wir zusammen an dem Fenster arbeiten, in der nächsten Woche mit auf den Flächen und dann komme ich nach und nach rein. Das heißt, wir machen gar keine extra Willkommenskultur oder versuchen zu sagen, jetzt kommt hier mal hin. Wir sind ohnehin immer da, offen und wir brauchen stets Leute, die mitmachen wollen. Es spielt keine Rolle, ob jemand aus dem nächsten Viertel ist oder ob aus einem völlig anderen Land.

Mir ist noch eine Sache aufgefallen: Ich persönlich habe eigentlich mit Handwerk gar nichts am Hut. Ich habe ein Tournee-Theater, ich bin eher auf Bühnen unterwegs und da heißt es ja immer, dass Musik die universale Sprache ist. Mit Musik können wir uns alle verstehen. Ich glaube, es ist nicht die einzige universale Sprache, denn das Handwerk ist da ganz ähnlich. Wenn ich an einem Ort mit anderen Menschen zusammenkomme und wir etwas gemeinsam mit den Händen schaffen, dann muss ich nicht die andere Sprache sprechen. Aber wenn ich jetzt eine Holzverbindung machen will, dann müssen wir uns darüber austauschen, wie das hinterher hält. So, und das kriege ich hin, indem ich das einfach mache. Oder ein Fenster hier aufarbeite oder keine Ahnung – eine Wand neu verputze. Das sind alles Sachen, da brauche ich nicht viel Sprache für, da muss ich einfach nur da sein, anpacken, ein bisschen praktisch mitdenken. Deswegen glaube ich, ist Handwerk als universelle Sprache auf jeden Fall ein wichtiger Teil, um in Wuppertal ankommen zu können.

In Utopiastadt „gibt mir im Zweifelsfall jemand einen Spachtel in die Hand und nimmt mich mit aufs Gerüst.“ – Foto: Nils Kohnen

WorkStadt: Und was können Internationals bei Utopiastadt theoretisch noch machen, außer sich handwerklich betätigen?

David: Hier gilt für alle, auch für die Internationals, die hier hinkommen und noch gar nicht wissen, was Utopiastadt ist: Hier kannst du machen, was du willst. Wichtig ist also, was willst du machen? Wenn jemand ankommt und zum Beispiel sagt, ich möchte eine Baumschule gründen, dann sagen wir nicht sofort „okay“, da ist eine Fläche, da kannst du Bäume pflanzen, sondern dann sagen wir „okay“, dann komm mal mit in den Campus Jour fixe, in dem wir über die Entwicklung des Utopiastadt-Campus sprechen. So kannst du sofort anfangen, dich da einzubringen und dann wird eine Baumschule draus oder ganz was anderes.

Man kann aber auch eine Veranstaltung machen. Man sagt zum Beispiel, ich würde gerne hier mal eine Lesung machen über venezolanische Gedichte. Es gibt hier niemanden, der venezolanische Gedichte vorträgt. Aber wenn das jemand hier machen will, finden wir einen Weg.

Es gibt die Coforschung hier, das sind Studierende aus verschiedenen Bereichen, die einmal im Monat zusammenkommen. Da kann man schnell auf Englisch switchen und sich auseinandersetzen, weil man noch irgendeine akademische Idee hat, die man verhandeln wollte. Das heißt, man kann mit ganz vielen Ideen hier ankommen.

Es gibt da nicht sofort den Rahmen, wo man das umsetzt, aber es gibt sofort Leute, mit denen man sich auseinandersetzen und darüber reden kann. Das wiederum macht man am einfachsten, indem man samstags zum Workout kommt und guckt, ob man irgendwo mit Handwerken kann. Dann kommt man mit den Leuten ins Gespräch und Internationals können „from scratch“ mitmachen.

Instagram-Reel zum Gespräch von WorkStadt mit David J. Becher

„Wuppertal ist eine Alltagsstadt“

WorkStadt: Hast du einen Tipp für die Internationals, die jobbedingt nach Wuppertal gezogen sind und noch keinen Anschluss gefunden haben? Wie kann man am schnellsten ein Gefühl für diese Stadt entwickeln?

David: Pina Bausch hat mal gesagt, Wuppertal ist eine Alltagsstadt. Das heißt, hier wurschteln wir halt vor uns hin. Wir machen hier Sachen so und da kann man mitmachen oder auch nicht. Aber da sagt keiner groß, komm mal mit und mach mal das.

Ich glaube tatsächlich, es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Stadt zu erfühlen. Ich empfehle, sich ein Pina Bausch-Stück anzugucken. Auch gerne was von den älteren Stücken, weil ich glaube, dass da viel von der Transformationsmentalität in Wuppertal rüberkommt.

Wuppertal ist eine ein bisschen seltsame Stadt. In Wuppertal wurde das Heroin erfunden, Wuppertal hat eben das Tanztheater auf links gezogen, in Wuppertal haben wir die Straßenbahn an eine Schiene gehängt, weil unten kein Platz war, um die fahren zu lassen. Also Wuppertal neigt dazu, so ein bisschen abseitige Ideen zu entwickeln. Hier entwickelt sich plötzlich eine utopische Stadt auf knapp 40 000 Quadratmetern, obwohl es keinen Investor gab. Einfach, weil Leute das machen. Also ich glaube, es lohnt sich, Wuppertal sehr open minded zu begegnen und nicht davon auszugehen, dass hier irgendetwas normal ist. In Wuppertal ist vieles sehr schroff, sehr unaufgeregt und gleichzeitig war Wuppertal neben New York eine der großen Entwicklungsachsen des Free Jazz. Also wir nehmen hier Sachen gerne auseinander. Wir haben Tanztheater auseinandergenommen, im Jazz haben wir Musik auseinandergenommen und irgendwie was anderes daraus gemacht.

Hier in Utopiastadt nehmen wir Gesellschaft auseinander und gucken, was da so drinsteckt. Also wenn du Lust hast, Sachen auseinanderzunehmen, dann bist du in Wuppertal sehr richtig. Und was glaube ich auch wichtig ist: Sich nicht so schnell abschrecken zu lassen, wenn nicht sofort jemand „Guten Tag“ sagt. Meistens haben wir nichts dagegen, wenn du dich daneben an den Tisch setzt, wenn du einfach da bist und offen auf uns zugehst.

Aber den richtigen Shortcut nach Wuppertal, da weiß ich nicht, ob ich den selbst schon gefunden habe. Ich lebe mein ganzes Leben hier. Also im Zweifelsfall sprecht mich einfach an, ich erkläre euch dann alles, was ihr wissen müsst – und wenn ihr mich gerade nicht findet, sprecht ihr einfach irgendjemand anderes an.

„Also wir integrieren hier gar nicht, weil wir jetzt einen Integrationspreis haben wollen.“ – Foto: Nils Kohnen

WorkStadt: Passen denn internationale Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen überhaupt gut hier hin, wenn hier jeder so vor sich hin werkelt und an seinem Ding bastelt?

David: Es gibt ein ganz spannendes Phänomen. In dieser ganzen Debatte, als hier 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind und alle nicht wussten, wo man sie unterbringen soll, war das für Wuppertal ein relativ kleines Problem. Wir hatten viele Wohnungen, wir haben eine ziemlich internationale Bewohnerschaft und dann waren die Leute in diesen Wohnungen, waren untergebracht und das geht hier weiter.

Also wir integrieren hier gar nicht, weil wir jetzt einen Integrationspreis haben wollen. Oder weil wir sagen, Mensch, großartig, wie integrativ wir sind. Sondern: Wenn du hier bist, bist du hier. Ich glaube, deswegen passen internationale Menschen besonders gut hier hin, weil du einfach sofort hier sein kannst. Du kannst in Wuppertal sofort da sein. Das kann manchmal ein bisschen schwierig werden, aber auch da gibt es sehr viele internationale Communities. Ich bin irgendwann mal nach dem Spazieren in Wupperfeld gelandet, dort gibt es eine griechische Community und ich saß auf diesem Platz am Wupperfelder Markt und habe mir gedacht, warum bin ich nicht ständig hier?

Das war so eine eigene Welt, die sich einfach da so festgesetzt hat. Und das ist halt ein Teil von Wuppertal. Und dann gibt es an anderen Stellen, andere Teile von Wuppertal. Also wir denken hier gar nicht drüber nach, ob international oder nicht international. Das passiert hier einfach. »gavrilova«

Diese Veröffentlichung ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der WorkStadt GmbH und der CampusZeitung blickfeld entstanden.

Gastautorin Evgenia Gavrilova

Evgenia Gavrilova (33) ist als Übersetzerin und Journalistin seit über 20 Jahren in der deutschen Sprache und Kultur beheimatet. Ihr Lebensweg führte sie aus dem russischen Sankt Petersburg eher zufällig nach Wuppertal, wo sie sich als Community Managerin bei WorkStadt zusammen mit internationalen Fachkräften regelmäßig auf Entdeckungstour begibt.

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