Eine Investition in die Zukunft – Johannes Rau und die Bergische Universität Wuppertal

„Bildung und Wissenschaft sind die beste und wichtigste Investition in unsere Zukunft“ – so äußerte sich am 14. Juli 2000 der damalige Bundespräsident Johannes Rau im Rahmen des Kongresses des Forums Bildung in Berlin. Auf einer Fachtagung, die am 20. und 21. Januar 2023 an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW) stattfand, griff Jakob Erichsen, Doktorrand an der Humboldt-Universität zu Berlin, in seinem Beitrag diese Aussage auf.

Der ehemalige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann bei seiner Begrüßungsrede © Johannes-Rau-Gesellschaft

Auch an anderer Stelle wurde auf der Tagung mit dem Titel „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ die zentrale Rolle von Bildung in der Politik Raus deutlich. Kurz vor dem 17. Todestag des ehemaligen Bundespräsidenten (1999 bis 2004) sowie langjährigen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen (1978 bis 1998) waren Wissenschaftler:innen und Weggefährt:innen zum Austausch über dessen Wirken zusammengekommen. Die von der BUW, der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Johannes-Rau-Gesellschaft veranstaltete Tagung zeigte auf, dass Johannes Raus Bildungspolitik gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil von dessen Integrations- und Strukturpolitik war. Es lässt sich sagen, dass ohne Raus bildungspolitischen Ansatz die Bergische Universität Wuppertal in ihrer heutigen Form nicht existieren würde. Mit welchem großen persönlichen Engagement Johannes Rau zur Errichtung des Hochschulstandorts Wuppertal beigetragen hat, wurde im Verlauf der Fachtagung mehrfach angedeutet.

Studieren ohne Abitur: die Gesamthochschulen

So bezog sich der ehemalige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann im Verlauf seiner Eröffnungsrede auf die Gründung der Gesamthochschulen in NRW Anfang der 1970er-Jahre unter Wissenschaftsminister Johannes Rau. Im Zuge der sich verschärfenden Tagebau- und Industriekrise im Ruhrgebiet sowie im Bergischen Land ab Ende der 1950er-Jahre wuchs dort die Notwendigkeit, einen Strukturwandel einzuleiten. Anstelle der Rohstoffgewinnung (primärer Sektor) und -verarbeitung (sekundärer Sektor) sollte der Dienstleistungssektor (tertiär) in den jeweiligen Wirtschaftsstandorten die zentrale Rolle einnehmen. Um diesen Umbruch vollziehen zu können, musste die notwendige Infrastruktur geschaffen werden. In diesem Kontext wurden 1972 unter dem damaligen NRW-Wissenschaftsminister Rau die Gesamthochschulen in Siegen, Paderborn, Essen, Duisburg und auch Wuppertal gegründet. Das Konzept der Gesamthochschulen ermöglichte einen Hochschulzugang ohne Abitur. Reiner Hoffmann würdigte diesen auf der Tagung als eine Errungenschaft sozialdemokratischer Politik. Im Zuge seiner Bildungspolitik stieß Rau noch vor seiner Amtszeit als NRW-Ministerpräsident den angesichts der Deindustrialisierung existenziellen Strukturwandel im Bergischen und im Ruhrgebiet an.

Wuppertal als Hochschulstandort: Voraussetzung für das Wuppertal Institut?

Auch Prof. Dr.-Ing. Peter Gust, Prorektor für Third Mission und Internationales an der Bergischen Universität, äußerte sich zur Gründung der Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfalen. Die Gesamthochschule Wuppertal sei dabei in besonderer Weise von Rau initiiert worden. Tatsächlich war die Hauptstadt des Bergischen in den ursprünglichen Planungen nicht als Hochschulstandort vorgesehen gewesen. Dass es dennoch zur Gründung kam, ist vor allem auf Johannes Rau zurückzuführen. Dieser hatte schon als Oberbürgermeister von Wuppertal (1969 bis 1970) Überzeugungsarbeit beim damaligen NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn geleistet. Mit Erfolg – denn 1972 wurde die Gesamthochschule Wuppertal gegründet, aus der im Jahr 2003 die Bergische Universität Wuppertal hervorging.
Neben Bildung sei auch die Stärkung der lokalen Forschung ein Teil der Strukturpolitik unter Wissenschaftsminister und später NRW-Ministerpräsident Johannes Rau gewesen, so Prof. Dr. Dieter Bathen in seinem Beitrag über die Gründungsinstitute der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft. Die Institute für außeruniversitäre Forschung seien aus diesem Nachnutzungs- und Weiterentwicklungsaspekt der Deindustrialisierung entstanden, in dessen Blickfeld schon früh ökologische Aspekte eingingen. Auch das 1991 gegründete Wuppertal Institut ging aus diesem Konzept hervor. Ohne den unter großem Einsatz von Johannes Rau ermöglichten Hochschulstandort Wuppertal wäre die Gründung des Forschungsinstituts für Klima, Umwelt und Energie wohl undenkbar gewesen.

BUW-Rektorin Birgitta Wolff © Johannes-Rau-Gesellschaft

Johannes Rau und Wuppertal

Neben BUW-Rektorin Birgitta Wolff war auch Oberbürgermeister Uwe Schneidewind vor Ort. Letzterer charakterisierte den gebürtigen Wuppertaler Johannes Rau als einen „wichtige[n] Kraft- und Impulsgeber“ sowie als eine der prägendsten politischen Figuren der Stadt. Er sei sich deswegen der Besonderheit bewusst, denselben Schreibtisch als Arbeitsplatz zu haben, von dem aus bereits Rau in den Jahren 1969 und 1970 die Geschicke der Stadt lenkte.

Auch deshalb eignete sich Wuppertal, genauer gesagt der Campus Freudenberg, in besondere Weise als Tagungsort. Das dort im Juli letzten Jahres eröffnete Johannes Rau-Zentrum diente der Veranstaltung als Räumlichkeit, insbesondere die in das Zentrum eingegliederte Johannes Rau-Bibliothek. Sie kombiniert anthraziten Sichtbeton mit hellen Holztönen. Aus Holz ist nicht nur der Parkettboden, sondern auch eine Flucht aus Bücherregalen gefertigt. Hierin befindet sich ein Teil der umfangreichen Privatbibliothek von Johannes Rau. Sechs- von insgesamt etwa fünfzehntausend Büchern des ehemaligen Bundespräsidenten sind hier seit Sommer 2022 untergebracht. Zahlreiche von ihnen sind signiert, Rau gewidmet. In die Regale sind Vitrinen eingelassen, in denen bestimmte Widmungen ausgestellt sind. Dazu gehört ein ganzseitiges Selbstporträt von Udo Lindenberg in dem für ihn typischen Likörell-Stil oder auch ein in Spiegelschrift verfasster Text von Wolf Biermann. Nicht selten fällt in den Widmungen das Wort „Freund“ – oder „friend“ im Falle eines israelischen Autors. Ein Detail, dass sich sehr gut in das Gesamtbild des stets den Dialog suchenden Johannes Rau einfügt.

Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind © Johannes-Rau-Gesellschaft

Auch in den Redebeiträgen der Tagung fand immer wieder das verbindende und versöhnende Element von Johannes Rau Erwähnung. So hob Dr. Ulrich Heinemann in seinem Vortrag Raus „Fähigkeit Beziehungen zu knüpfen“ hervor und sprach gleichzeitig von einem ausgeprägten Beziehungsgeflecht. Dessen Knotenpunkte habe Rau „zwischen Rhein und Ruhr“ gehabt. Auf die Prägung Raus in und durch Wuppertal ging Heiner Flues, Dozent an der Bergischen Volkshochschule genauer ein. „Der bildungsbürgerliche Autodidakt“ Rau habe Teile seiner Sozialisierung im Umfeld der Bekennenden Kirche erfahren und wohl auch deshalb früh „nach einer rationalen menschlichen Auseinandersetzung“ gestrebt.
Dr. Sara-Marie Demiriz zufolge habe die enge Verbundenheit Raus zu seiner Heimatregion auch dazu geführt, dass der Brandanschlag in Solingen von 1993 den damaligen Ministerpräsidenten besonders stark mitgenommen habe. Rau sei desillusioniert gewesen und habe in Betracht gezogen, sein Amt niederzulegen. Kurzentschlossen sei er dann – ohne auf das entsprechende Sicherheitspersonal zu warten – zum Ort des Anschlags gefahren. In Demiriz‘ Vortrag wurde auch deutlich, wie insbesondere das Ruhrgebiet zu einem Experimentier- und Entwicklungsfeld der deutschen Integrationspolitik wurde, das immer noch einer historischen Beforschung harrt.

Johannes Rau-Bibliothek am Campus Freudenberg © ​​​​​​Dr. Anja Kruke, Friedrich-Ebert-Stiftung

„Versöhnen statt Spalten“

Während der Tagung wurde immer wieder der zwischenmenschliche Wert von Johannes Rau aufgegriffen. Allgemein sei Rau sehr mit seinem Umfeld befasst gewesen, habe sich auch als erfolgreicher Landespolitiker bei Bürgermeister:innen nach den Fortschritten ihrer Kommunalpolitik erkundigt. Eine seiner Devisen sei „einander achten und aufeinander achten“ gewesen. Ergänzend dazu habe Rau immer einen großen Wert auf Dialog mit der Bevölkerung gelegt. Deshalb sei es ihm auch in seinen hohen Ämtern nach wie vor wichtig gewesen, jeden Brief von Bürger:innen zu beantworten. Nicht zuletzt fanden auf der Tagung die vermittelnden und zwischenmenschlichen Qualitäten des ehemaligen Bundespräsidenten gemäß seinem Leitsatz „Versöhnen statt Spalten“ Erwähnung.

Insgesamt wurde im Verlauf der Tagung von (geschichts-)wissenschaftlicher Seite vielfach aufgezeigt, wie sehr der Stil Johannes Raus zu dessen Erfolg beitrug. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Beiträge Prof. Dr. Jürgen Mittags und Dr. Uri Robert Kaufmanns verwiesen. Letzterer zeichnete die genauso kontinuierliche wie enge Beziehung Raus zur jüdischen Bevölkerung im In- und Ausland nach. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner Prägung durch die Bekennende Kirche habe Rau, auch als Politiker, ein ethisch fundiertes Engagement in Verantwortung vor der deutschen Geschichte gelebt. Die besondere Beziehung Raus zum Judentum kam auch in Mittags Beitrag zum Ausdruck, in dem auf Raus Rede als erster Bundespräsident im israelischen Parlament eingegangen wurde. Rau sprach auf Deutsch, was in Israel im Vorfeld für Kritik – im Nachhinein aber für wohlwollenden Applaus und ein positives Medienecho – sorgte. Es ist wohl vor allem der Persönlichkeit Johannes Rau zu verdanken, dass nicht nur besagte Rede, sondern auch die gesamten Bemühungen des Politikers für ein versöhnliches deutsch-israelisches (bzw. -jüdisches) Verhältnis ihre Wirkung entfalten konnten.

Johannes Rau und Gründungsrektor Dr. Rainer Gruenter (1993) © BUW

Der einnehmenden Art Raus ist es wohl auch zu verdanken, dass mit der Gründung der Gesamthochschule Wuppertal eine Investition in die Zukunft getätigt werden konnte, die sich auch heute noch – nicht nur für rund 23.000 Studierende – für die Region bezahlt macht.

Gastautor Hendrik Schlüter

Hendrik Schlüter, geboren 2001, studiert seit 2020 Angewandte Kultur- und Wirtschaftsstudien: Deutsch-Französisch an der Bergischen Universität Wuppertal. Im Winter 2022/2023 absolvierte er ein dreimonatiges Praktikum im Referat Public History der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.

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