„Creamy and Salty Scars“ – ein achterbahnartiges Leben

Vor der Wende floh sie mit ihrer Familie aus Borna bei Leipzig nach Solingen, wo sie anfangs in einem Aufnahmelager lebte. Kurz darauf ließen sich Denises Eltern scheiden und ihre dann alleinerziehende Mutter war mit der Erziehung überfordert, sodass Denise ins Kinderheim zog. Was sich leicht als schwere Kindheit bezeichnen lässt, ist für sie eine Zerreißprobe. Denise hat diese schwere Zeit nicht nur hinter sich gelassen, sondern ist dank vieler Begegnungen mit neuer Kraft und neuem Mut vorangegangen, mit Leidenschaft für die Kunst und dem Lehrberuf als festem Ziel.

Titelfoto: Borys Mysakovych

„Im Idealfall entwickeln wir während unserer Kindheit das nötige Selbst- und Urvertrauen, das uns als Erwachsene durchs Leben trägt“, schreibt Autorin Stefanie Stahl in Das Kind in dir muss Heimat finden. Doch was passiert, wenn diese Entwicklung nicht stattfindet? Mangelndes Selbstvertrauen, Introvertiertheit, Einsamkeit, Panikattacken und Traumata können die Folge sein – unter all diesen Dingen litt auch Denise. Heute studiert sie an der Bergischen Universität Wuppertal Kunst und Geschichte auf Lehramt. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Küchenhilfe in einem italienischen Restaurant, dann im Café Milias und fotografierte die Partyszene der Disco Bohème in der MAUKE. Sie beteiligte sich auch an der Integration von Flüchtlingen beim Verein Hand in Hand e.V. und gab dort eigens konzipierten Deutschunterricht. Jetzt konzentriert sie sich vor allem auf ihr Studium und ihren zukünftigen beruflichen Werdegang. Bis hierhin war es ein langer Weg – von dem sie uns erzählt hat.

Von der Hauptschule bis zur Universität

„Anfangs befand ich mich in einem abenteuerlichen Rausch aus Grenzen austesten, Neugierde befriedigen und meine Welt erkunden. Später wurde diese aufregende Welt von einem Meer von Angst, Unsicherheit und Selbstzweifeln verschluckt“, fasst Denise ihre Kindheit zusammen. Doch im Dunkeln war auch Licht: „Neben den erdrückenden Tagen, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt überwogen, gab es darin sehr wertvolle Momente und Erlebnisse, die ich mit wundervollen, inspirierenden Menschen erfahren durfte.“ Das gab ihr Kraft – und den Wunsch, „als Lehrerin andere zu inspirieren, weiterzubringen, zu unterstützen und ihnen zu helfen.“

Die Schullaufbahn war jedoch „die reinste Berg- und Talfahrt“ und mündete zunächst in einem Hauptschulabschluss. Mit dem Auszug aus dem Heim und der ersten eigenen Wohnung ging es am Bergischen Kolleg bis zum Abitur weiter. „Ich konnte mich neben den alltäglichen Hürden und der Arbeit nicht immer gut auf die Schule konzentrieren, aber ich habe mich durchgebissen“, sagt sie rückblickend. Sie bewarb sich bei den Kunsthochschulen in Düsseldorf und Berlin-Weißensee – erfolglos. Doch allen Rückschlägen zum Trotz blieb sie weiter bei der Sache und gab sich nicht auf – mit dem Ergebnis, an der Bergischen Universität für die Fächer Geschichte und Kunst zugelassen zu werden. „In diesem Moment war ich der glücklichste Mensch der Welt“, erinnert sie sich.

Arbeit im Atelier von Tony Cragg

Während der Schulzeit und im Studium geben – im Idealfall – die eigenen Eltern viel Halt und Unterstützung. Anders bei Denise, die auf sich allein gestellt war. Sie durchwanderte zahlreiche Stationen: Unter anderem arbeitete sie nach einem dreiwöchigen Praktikum rund sechs Jahre bei dem Künstler Tony Cragg, überregional wegen des Skulpturenparks Waldfrieden in Wuppertal-Hesselnberg bekannt. In seinem damaligen Atelier am Campus Freudenberg werkte sie zusammen mit anderen Angestellten an den Skulpturen und lernte so die Wuppertaler Kunstszene kennen. „Es war eine spannende und sehr unterstützende Zeit. Ich war froh, meinen ersten, richtigen Job zu haben. Dort habe ich sehr tolle Menschen kennengelernt. Mit ihnen, Cragg selbst und meiner Arbeit dort habe ich viel über und für mich gelernt“, fasst sie mit einem Gefühl der Dankbarkeit zusammen.

Denise blickt gerne auf diese Zeit zurück, denn sie konnte die Vielfalt an Materialverarbeitung und -verwendung erfahren: „Es gab so viel zu tun und meistens unter Zeitdruck, aber das war toll. Ich mag den Stress bei der Arbeit, es wird einfach nicht langweilig, es hat sowas euphorisierendes.“ Leider befand sie sich zu dieser Zeit in einer Phase der Unsicherheit und Ängstlichkeit: „Ich konnte mein eigentliches Potenzial, meine Liebe und Leidenschaft zu dieser Art von Arbeit nicht zeigen oder beweisen. Dennoch danke ich ihm, seiner Familie und seiner Traube an Beschäftigten sehr für diese tolle Zeit und die Erfahrungen.“

Im folgenden Job eine Familie gefunden

Kurz bevor ihre Zeit bei Tony Cragg endete, lernte sie ihren späteren Chef kennen. Sein Ladenlokal und ihre damalige Wohnung im Luisenviertel teilten sich einen kleinen Hinterhof. Ohne Job „saß ich total verzweifelt draußen und dachte über meine nächsten Schritte nach.“ Das blieb auch dem Inhaber des Lokals nicht verborgen. Er gab ihr eine Chance und bot ihr einen Probetag im Restaurant an. „An dem Tag lief alles falsch, was nur falsch laufen konnte und dann kam noch meine Unsicherheit anderen Menschen gegenüber dazu, was den Abend zur reinen Katastrophe machte. Ich kellnerte, übersetzte die Tafel von Italienisch auf Deutsch und hatte keine Ahnung vom Essen und Wein. So wurde nichts aus dem Job.“ Doch er gab ihr eine zweite Chance, dieses Mal in der Küche: „Dort konnte ich mich in Ruhe auf mich und meine Arbeit konzentrieren, mich quasi verstecken. Nach ein paar Monaten war ich total fit in allem, was ich in dieser kleinen Küche erledigen musste, so durfte ich auch Vorspeisen und Nachtische anrichten und meiner Kreativität freien Lauf lassen.“ In den zehn Jahren, in denen sie dort arbeitete, ist aus dem Job mehr geworden: „Meine Arbeitskollegen und mein Chef sind mir sehr ans Herz gewachsen und nehmen einen großen Platz in meinem Leben ein.“

Sie ist der Überzeugung: „Alles was man tut, erlebt oder wen man trifft, beeinflusst einen. Man lernt voneinander und miteinander unbewusst und bewusst. Das ist das Spannende an allen Dingen. Ich glaube, dass meine Freunde und generell die Menschen, mit denen ich viel Zeit verbringe, unbewusst mein ‚Familiendefizit‘ ausfüllen.“ So hielt sie ihre Kraft und Neugierde aufrecht: „Das brachte mich nach vorn.“ Mit der Zeit habe sie aufgehört, sich hinter Zeichenbüchern, Gedanken und verworrenen Texten zu verstecken und sei „offener geworden.“ Sie gehe viel bewusster und reflektierter mit sich und ihrer Umgebung um. „Ich wollte schon immer beruflich etwas erreichen, indem ich für andere da sein oder etwas verändern kann.“ Ein sehr guter Freund brachte Denise auf den Gedanken, ein Lehramtsstudium zu beginnen, und so fand sie einen neuen Zugang zu ihrer künstlerischen Seite.

Mit dem Objektiv ganz nah an den Menschen

Oft läuft Denise durch die Straßen Wuppertals, sieht „alltäglichen Kram“ und spricht fremde Leute für ein Fotoshooting an: „Ich spreche zum größten Teil Menschen an, die eine gewisse Unsicherheit ausdrücken, obwohl sie das nicht müssten, weil sie eine sehr interessante und schöne Ausstrahlung haben.“ Sie holt die Leute dann in ihr Fotostudio und versucht, in angenehmer Atmosphäre und mit Musik die Unsicherheit herauszunehmen, damit sie sich dann im Scheinwerferlicht „entspannt fallen und gehen lassen können.“ Dabei möchte sie aus der medial vermittelten Norm ausbrechen, also „ohne den Mode- und Schönheitswahn mit Schminke“. Denn „alle Menschen sind irgendwie schön und perfekt und das arbeite ich im Fotoshooting heraus – manchmal auch, indem ich die Menschen auf verschiedene Art und Weise verziere.“ Denise nimmt wahr, dass „die meisten schönen Menschen sich selbst nicht schön finden oder sich unwohl fühlen. Denen versuche ich zu zeigen, was optisch in ihnen steckt.“

Die dafür notwendigen Grundlagen erlernte sie im Studium: „Schon während meines ersten Seminars in Fotografie fing ich an, Menschen anzusprechen, die ich mal fotografieren wollte.“ Ihre Kommilitonin Julia war ihr erstes Model: „Sie hatte lange dicke Haare, die bis zum Po gingen, in hellblau, war sehr zierlich in ihrer Statur und wusste ihren Körper einzusetzen. Aber die Haare haben mich besonders inspiriert.“ Denises Ziel dabei: „Ich versuche das Foto so hinzubekommen, wie ich den Menschen in der Realität sehe.“ Denn: „In uns steckt viel mehr, als wir glauben!“

Warum „Creamy and Salty Scars“?

So lautet der Titel des Buches, das Denise zu schreiben begonnen hat. Darin wird es „sehr traurige und dunkele Kapitel geben, aber auch wunderschöne Momente, die sehr entscheidend waren, um dem negativen Sog zu entkommen.“ Sie spricht offen von ihrem „achterbahnartigen Leben“, denn gesellschaftliche Entwicklungen, wie wachsender Egoismus oder eine Verrohung der Menschen untereinander, würden dazu führen, dass „Menschen sich verschließen.“

Denise will mit ihrer Arbeit kein Mitleid erreichen, sondern „teilen und zeigen, was für eine Stärke in jedem von uns innewohnt.“ Sie zeigt ihre Narben, die alle verschieden sind. Manche entstammen tieferen Verletzungen als andere. Wer betroffen ist, neigt dazu, seine Narben zu verstecken, Unbetroffene ignorieren sie oft. „Vielleicht erreichen meine Worte Menschen, die es brauchen. Im besten Fall hilft meine Geschichte dem einen oder anderen weiter“, formuliert Denise ihr Ziel. »mw«

Fotografien von Denise

Kontakt für Rückfragen: coriandoli.denise@gmail.com

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  1. Denise ist auf jeden Fall eine Bereicherung für die Gesellschaft und natürlich für die Kunst und Kulturscene . Tolle Ausstellung und Performance bei uns in Hagen. Dietmar Schneider

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