Plötzlich fremdverliebt

Wie oft hatte ich Freundinnen und Bekannte verurteilt, wenn sie fremd gingen, zweigleisig fuhren, zu feige waren, sich endgültig zu entscheiden. Wer glücklich ist, will keinen anderen und wer jemand anderen will, der sollte seine Beziehung schleunigst beenden. Und ich war sicher: Mir würde sowas definitiv nie passieren.

Zwischen zwei Beziehungen – Herz gegen Kopf

Mit meinem Freund Jan* bin ich seit acht Jahren zusammen. Lange lief es schlecht. Irgendwie haben wir uns allerdings doch wieder zusammengerauft. Aber Jan ist berufsbedingt viel unterwegs, wir sehen uns maximal einmal die Woche, schreiben und telefonieren wenig. Ihm macht das nichts aus, mir schon. Ich bin viel mit Freunden unterwegs, damit ich nicht allein zu Hause hocke.

Und dann, eines Abends, als ich mit einigen Freunden am See picknicke, kommt Tim* dazu. Wir sind uns sofort sympathisch. Er leiht mir seine Kappe, als mich die Sonne blendet. Er gibt mir seine Jacke, als mir in der Dämmerung kalt ist. Wir kommen immer wieder ins Gespräch und ich stelle fest: Wir haben ziemlich viele Gemeinsamkeiten.

Wir verabreden uns für den nächsten Samstag zu dritt, aber der gemeinsame Freund springt ab. Also gehen Tim und ich allein etwas trinken. Meiner besten Freundin erzähle ich fest entschlossen, dass ich rein freundschaftliches Interesse habe. Davon bin ich wirklich überzeugt. Sie weiß es besser.

Acht Stunden lang quatschen Tim und ich über Gott und die Welt und lernen uns ein bisschen besser kennen. Seine Art ist so erwachsen mit der perfekten Prise kindisch. Er wirkt verantwortungsbewusst und ich finde das irgendwie ziemlich anziehend. Aus einem Treffen werden drei. Bei der letzten Verabschiedung umarmen wir uns etwas länger als üblich und als ich zu Hause ankomme, leicht angetrunken, lehne ich mich an die Wand, lächle in mich hinein und stelle mir vor, wie es wohl ist, ihn zu küssen.

Zwei Eisbecher, einige Treffen und viele Biere später küsst Tim mich tatsächlich, alles in mir kribbelt und ich sehe ein, dass meine beste Freundin wohl Recht hatte. Das ist der Beginn des größten Beziehungsdilemmas meines Lebens. Denn offiziell bin ich immer noch mit Jan zusammen.

Was zur Hölle soll ich jetzt machen?

Zuerst tue ich die Sache mit Tim als reine Schwärmerei ab. Schließlich liebe ich Jan noch und die Beziehung ist trotz kleiner Wehwehchen in Takt, oder? Gleichzeitig merke ich, dass ich immer öfter an Tim denke und gedankenverloren aufs Smartphone starre, weil ich auf Nachrichten von ihm warte. Morgens nach dem Aufwachen, vormittags beim Kaffee trinken, nachmittags beim Lernen, abends vor dem Einschlafen. Eines Nachts werde ich wach – mein erster Gedanke gilt Tim, dabei liege ich neben Jan. Es reicht. Was zur Hölle soll ich jetzt machen? Ich fühle mich schlecht – beiden gegenüber.

Reden soll bekanntlich helfen. Jan und ich sprechen über die Beziehungsprobleme. Es ist ihm auch aufgefallen, er schiebt es auf den Stress und versichert mir, dass nach dieser Zeit alles wieder besser wird. Ich bin skeptisch und fühle mich gleichzeitig echt schlecht, weil ich schon so tief in der Sache mit Tim stecke. Irgendwie wünschte ich, Jan würde das alles auch negativer sehen. Aber irgendwie auch nicht. Und an Tim denke ich trotzdem noch.

Ich wünsche mir ein Paralleluniversum

Meine Freunde raten mir, Tim nicht mehr zu sehen. Aber das kann ich nicht. Er übrigens ebenso wenig, obwohl er von Jan weiß. Also treffen wir uns weiter, sehen uns häufiger als ich Jan sehe. Obwohl wir uns wirklich fest vornehmen, uns erst einmal weiter kennenzulernen, können wir es nicht lassen und knutschen, was das Zeug hält. Im Bett landen wir nicht. Das Dilemma in meinem Kopf ist riesig, meine Gedanken haben sich längst in einem Teufelskreis verloren. Es ist ein ständiges Auf und Ab. Bin ich bei Jan, rede ich mir die Sache mit Tim klein und frage mich, was ich da eigentlich für einen Schwachsinn veranstalte. Ich sehe die vermeintliche Sicherheit, die er mir gibt. Das, was wir hatten und haben und noch haben könnten und finde das auch irgendwie toll. Ich will die Beziehung mit Jan nicht einfach so wegwerfen – es sind immerhin acht Jahre voller Erinnerungen und Vertrauen. Und ich habe Angst, dass das mit Tim nur eine Phase ist. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich gerne bei ihm bin, dass es kribbelt, dass ich ihn gerne küsse und dass ich mir ausmale, wie es wäre, mit ihm zusammen zu sein. Und sobald ich bei ihm bin, ist es ganz vorbei mit mir und Jan existiert nicht mehr. Ich wünsche mir ein Paralleluniversum, in dem ich endlich herausfinden kann, was ich wirklich will.

Was, wenn ich die falsche Entscheidung treffe?

Freunde und Familie raten mir nun ausnahmslos dazu, die Beziehung zu beenden. Ich ernte viel Kritik, kann das auch verstehen. Aber so einfach ist das alles nicht. Und denjenigen, der sofort eine Beziehung von acht Jahren beendet, weil ein neues Gefühl auftaucht, möchte ich sehen. Allerdings sehe ich Jan immer mehr wie einen Bruder. Sex haben wir schon lange keinen mehr und die Gesprächsthemen gehen uns aus. Das schlechte Gewissen nagt an mir, Jan weiß schließlich immer noch nichts von Tim. Ich möchte nicht so ein Mensch sein, aber ich kann nicht aus meiner Haut. Das Grübeln macht mich fertig, ich habe keinen Hunger mehr und schlafe immer schlechter. Ich kann so nicht mehr weiter machen. Mir wird klar, dass ich herausfinden muss, was ich selbst will und nicht ständig aufs Neue analysieren sollte, wie sich die beiden mir gegenüber verhalten. Ich habe wahnsinnige Angst davor, eine Entscheidung zu treffen. Was, wenn es die falsche ist? Es ist ein Kampf – Herz gegen Kopf. Ein Monat ungewisses Kribbelgefühl gegen acht Jahre Vertrauensbasis. Das ist nicht so einfach, wie es von außen scheint. Ich war noch nie in so einer Situation und bin heillos damit überfordert. Dass das niemandem gegenüber fair ist, weiß ich.

Ich werde langsam wahnsinnig, deshalb entschließe ich mich dazu, einen Tag allein wegzufahren, um meine Gedanken zu ordnen. Am Ende des Tages weiß ich nur eines: Ich habe mich fremdverliebt und ich komme nicht mehr davon weg.

Das Herz hat entschieden, der Kopf weiß es nur noch nicht

Wenn ich vernünftig darüber nachdenke, sollte ich wohl an meiner bestehenden Beziehung arbeiten und nicht alles hinwerfen, nur weil da gerade neue Gefühle aufgetaucht sind. Wenn ich mich aktiv dafür entscheide, könnte es sicher wieder gut werden. Aber eigentlich denke ich die ganze Zeit nur an Tim. Mein Herz hat sich wohl schon entschieden, nur im Kopf ist das noch nicht so ganz angekommen. Tim gibt mir alle Zeit der Welt, aber ich weiß, dass es ihn innerlich zermürben muss.

Ich glaube, Jan merkt mittlerweile, dass etwas im Busch ist. Endlich erzähle ich ihm von Tim. Wir weinen beide. Er sagt, er liebt mich, ich bin ihm wichtig, er will mich nicht verlieren und er bietet mir an, abzuwarten. Aber ich merke auch zwei Wochen später, dass ich nur halbherzig in dieser Beziehung stecke und dass ich gedanklich schon eine Beziehung mit Tim führe. Jan tut so, als wäre nie etwas gewesen. Er fährt ohne mich in den Urlaub. Es wird mir immer egaler, ob wir uns sehen. Ich vermisse ihn nicht, schiebe alle Zukunftspläne auf und sage Treffen ab. Er vermisst mich offenbar auch nicht. Denn obwohl wir uns zwei Wochen nicht gesehen haben, verabreden wir uns erst eine weitere Woche nach seiner Rückkehr zu einem eher freundschaftlichen Pflichttreffen. Wir trennen uns.

Es ist ein Prozess

Ich empfand das Geschehen als einen langwierigen Prozess, in dem meine Synapsen neu verknüpft werden mussten. Eine Waage, auf der einen Seite Jan, auf der anderen Seite Tim. Anfangs stand auf Tims Seite nur ein bisschen Gewicht, irgendwann waren die Seiten ausgeglichen und dann stand da mehr Gewicht auf Tims als auf Jans Seite, viel mehr.

Es dauerte seine Zeit, bis die Erkenntnis in meinem Kopf ankam: Nur weil die Beziehung acht Jahre lang andauerte, heißt das nicht, dass sie gut war oder es wieder werden konnte. Ich war seit Ewigkeiten unglücklich. Jan hatte andere Prioritäten, wir hatten ein unterschiedliches Nähe-Bedürfnis und unterschiedliche Vorstellungen einer Beziehung. Er war übrigens auch kein Unschuldslamm, aber das würde den Rahmen sprengen. Wir konnten uns einfach nicht das geben, was der andere brauchte.

Rückblickend ärgere ich mich schwarz darüber, die Beziehung mit Jan nicht viel eher beendet zu haben. Es stecken sicher immer individuelle Probleme hinter solch einem Verhalten wie meinem. Ob man nun – wie ich – zu feige ist, eine Entscheidung durchzuziehen, seine Beziehungsprobleme nicht ansprechen mag oder ob eine Aussprache einfach nichts gebracht hat. Besser ist es wohl, gleich die Beziehung zu beenden. Das erspart einem selbst Nerven und den Mitmenschen Verletzungen. Feige ist und bleibt die ganze Sache und stolz bin ich auf diese Geschichte sicher nicht. Trotzdem sollte es am Ende wohl so kommen. Für mich gibt es retrospektiv keine bessere Entscheidung als die längst auseinandergelebte Beziehung beendet und auf mein Herz gehört zu haben. Denn jetzt führe ich die Beziehung, die ich immer wollte.

Eine Sache habe ich aus all dem gelernt: Die Entscheidung, die man trifft, ist am Ende unweigerlich die richtige. Und: Man sollte andere Menschen nicht vorschnell verurteilen, wenn man selbst noch nicht in deren Situation gesteckt hat! Niemand ist davor gefeit einen Fehler zu machen oder sich plötzlich und unerwartet in einen anderen Menschen zu verlieben. »red«

* Hinweis: Die Namen von Jan und Tim haben wir geändert. Die Autorin selbst möchte anonym bleiben.

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  1. Ich würde gerne wissen, warum die Autorin diesen Stil eines Tagebucheintrages gewählt hat. Sind die Gefühle, die sie hier beschreibt dann authentischer?

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