„Leute wie dich lassen wir eigentlich durchfallen! Sei froh, dass du überhaupt bestanden hast!“

Hilal ist 24 Jahre alt. Hinter ihr liegt ein Lehramtsstudium in den Fächern Geschichte und Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Alle Prüfungen sind absolviert - außer einer: das Abschlusskolloqium in der Erziehungswissenschaft. Sie geht "super vorbereitet, mit PowerPoint-Präsentation und sehr viel Material" in die Prüfung rein, denn sie will diese "richtig rocken." Gestärkt mit einer 2,0 in Geschichte und einer 1,7 in SoWi aus den übrigen Examensprüfungen betritt sie den Prüfungsraum.

„Alle Fragen, die mir gestellt werden, beantworte ich ausnahmslos. ‚Wow Hilal, du hast es geschafft‘, denke ich mir. Ich habe ein richtig gutes Gefühl. Das Studium ist gleich abgeschlossen.“ Danach fließen beim Telefonat mit ihrer Mutter die Tränen. Freudentränen? – mitnichten. Durchgefallen? – nein und doch irgendwie schon. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben bestanden“, heißt es von den Prüfenden. „Was dann passiert, ist wie aus einem schlechten Film.“ Hilal wird die Note mitgeteilt: „Eine vier“ – ausreichend. Sie versteht es nicht. Was ist passiert, wo lagen die Fehler – in den Antworten, in der Präsentation? Sie fragt nach und erhält vom Prüfenden als Antwort: „Leute wie dich lassen wir eigentlich durchfallen! Sei froh, dass du überhaupt bestanden hast!“ Ihr Inneres zieht sich zusammen: „Ich hatte an dem Tag verloren. Das Recht auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit.“ Da trösten auch die anschließenden Worte des Zweitprüfers nicht: „Er kam zu mir und sagte: Es tut mir leid, das was hier gerade gelaufen ist, ist nicht fair, nur kann ich nichts machen. Sie hätten mindestens eine zwei verdient.“ Es bleibt bei Worten …

#esreicht: Sie erzählt ihre Geschichte auf Instagram und wird tausendfach gehört

Wer nun denkt, „da muss sie gegen vorgehen, das kann sie nicht mit sich machen lassen“, ist zu spät dran. Die Geschichte der mittlerweile verbeamteten und heute 34-jährigen Lehrerin, die ihr Referendariat mit 1,2 absolviert hat, liegt über zehn Jahre zurück. Sie studierte zwischen 2006 und 2009 Lehramt für die Sekundarstufe 1 an der Uni Wuppertal und unterrichtet aktuell an einer Realschule im Kölner Raum. Damals wollte sie einfach nur weg – weg von der Uni und raus aus der Stadt. „Wie hätte ich mich wehren sollen, es stand Aussage gegen Aussage“, sagt sie rückblickend.

Sie hat es und alles andere, was zuvor geschah, runtergeschluckt, eingesteckt – doch vor einer Woche brach sie ihr Schweigen: „Damit sowas nicht mehr passiert.“ Auf Instagram, wo sie auch Unterrichtsmaterial und Ideen teilt, hat sie den Wuppertaler Ausschnitt ihrer Geschichte erzählt und bittet ihre Leser/-innen: „Sprecht diese Dinge offen an.“ Seitdem läuft ihr Postfach über mit Geschichten, in denen Menschen erzählen, wie sie tagtäglich mit Rassismus konfrontiert werden. Hilal teilt diese in ihrer Insta-Story, die sie um viele weitere Erfahrungen seit ihrer Jugend ergänzen könnte.

„Du kannst nicht lesen“ – „Hilal kann nicht lesen“

Ein Kampf sei bereits die Grundschule und mehr noch der Wechsel zur weiterführenden Schule gewesen. „Du kannst nicht lesen“, habe Hilals Grundschullehrerin ihr immer wieder gesagt und es auch vor der Klasse betont: „Hilal kann nicht lesen.“ Die eigens für sie eingerichtete Leseförderung empfindet sie im Nachhinein als Tortur: „Ich musste als einzige aus meiner Klasse vor der ersten Unterrichtsstunde zur Schule kommen und Texte lesen. Dabei wurden mir richtige Zungenbrecher vorgelegt, die niemand in meinem Alter hätte lesen können und was mich im Unterricht richtig entmutigt hat.“ Ihr Vater konnte dies nicht begreifen, „weil ich leidenschaftlich gerne lese und damals aus der Bibliothek Bücherstapel rausgetragen habe, die fast höher waren als ich.“ Der Schock folgte zum Ende der Grundschule: Hilal bekam eine Empfehlung für die Hauptschule. Ihre Eltern kämpften und setzten sich dafür ein, dass Hilal an eine Realschule kam. Es wurde die fünfte Realschule, die angefragt wurde „und erstmal auf Probe für sechs Monate.“ Ihr Halbjahreszeugnis der fünften Klasse habe danach im Lehrerzimmer gehangen, „voller Einsen und einer drei in Sport“, daneben das Abschlusszeugnis der Grundschule, gespickt mit Vieren – eine Art Mahnmal, „aufgehangen von meiner liebevollen Klassenlehrerin.“

„Tja Hilal, du hast doch deine Quali bekommen“

Wurde in der Realschule nun alles besser? – nicht wirklich, wie Hilal erzählt: „Meine Quali, die für den Wechsel in eine Oberstufe vonnöten ist, um das Abitur zu absolvieren, wäre fast an meiner Mathelehrerin gescheitert.“ Hilal habe die ersten beiden von drei Mathearbeiten drei und vier geschrieben. Mit einer zwei in der letzten Prüfung hätte es für eine drei auf dem Zeugnis reichen müssen und somit auch für die Qualifikation zur Oberstufe. Ihre Mathelehrerin habe die Messlatte höher gehangen und auf eine eins bestanden, „offenbar mit dem Gedanken, dass ich das ohnehin nicht schaffe. Doch ich habe Tag und Nacht gelernt und am Ende mit einer eins bestanden.“ Auf dem Zeugnis stand dennoch die vier. Damit konfrontiert habe die Lehrerin ihr süffisant geantwortet: „Tja Hilal, du hast doch deine Quali bekommen.“ Der Wechsel in die Oberstufe einer Gesamtschule gelang – trotz ihrer Mathelehrerin.

„Mach bloß eine Ausbildung und kein Studium – das schaffst du nicht“

Während der Bildungslaufbahn ermutigt werden – das kennt Hilal nicht. Stattdessen sei ihr während des Abiturs von mehreren Lehrer/-innen von einem Studium abgeraten worden: „Mach bloß eine Ausbildung und kein Studium – das schaffst du nicht.“ Sie interessierte sich für den Polizeidienst und das Studienfach Psychologie, denn: „Ich will etwas verändern und dazu auch die Hintergründe erfahren.“ Dass es am Ende ein Lehramtsstudium wurde, resultierte aus ihrem Freundeskreis: „Meine Freundinnen erzählten mir vom Lehramtsstudium und ich überlegte mir, welche Fächer ich studieren könnte.“ Sie startete mit Geschichte und Philosophie für die Sekundarstufe 2, also die gymnasiale Oberstufe, wechselte aber aufgrund des zu absolvierenden großen Latinums auf Sekundarstufe 1 und von Philosophie auf Sozialwissenschaften. Letzteres schloss sie bereits nach fünf Semestern, zwei früher als vorgesehen, ab, wie sie berichtet.

Ans Studium selbst habe die damals in Elberfeld in einem Altbau wohnende Alumna keine schlechten Erinnerungen. An manche Professoren, wie dem im Ruhestand befindlichen Historiker Eckhard Freise, dem ersten Gewinner bei „Wer wird Millionär“, denkt sie gerne. Dennoch kehrte sie nach dem Studienabschluss das erste Mal – zum Interview mit unserer Redaktion – nach Wuppertal zurück. Zu sehr habe die Abschlussprüfung sie damals mitgenommen.

Hilal im Gespräch mit blickfeld-Redakteur Martin

„Ich habe keine Lust auf Problemreferendare“

„Jemandem Steine in den Weg legen“ ist eine altbekannte Redewendung. Hilal spricht bewusst von „Felsen“, die auch während ihres Referendariats vor ihr lagen. Diese aus dem Weg zu räumen, dabei habe ihr ihr damaliger Seminarleiter geholfen, der sie eines Tages im Gang sah und anmerkte: „Hilal, du strahlst nicht mehr.“ An ihrer ersten Schule habe ihre Schulleiterin und zugleich Mentorin etwa in ihren Geschichtsunterricht aktiv eingegriffen und versucht, Hilal dazu zu bringen, Themen, die etwa den Nationalsozialismus betreffen, herunterzuspielen. Um aus diesem Konflikt rauszukommen, der ihre Integrität angriff und ihre Zukunft gefährdete, initiierte ihr Seminarleiter einen Schulwechsel. An der folgenden Schule wurde sie mit den Worten „Ich habe keine Lust auf Problemreferendare“ abgelehnt. Wortlos, aber voller Verständnis sei sie dann von der Schulleiterin ihrer dritten Ausbildungsschule aufgenommen worden. „Sie hat mir angesehen, das ich bis dahin schon einiges durchgemacht habe“, erinnert sich Hilal, die sechs Monate nach Beginn ihres Referendariates endlich ihre Lehramtsausbildung abschließen konnte.

„Wann ist man genug?“

„Du kannst nicht lesen“, „Du hast doch deine Quali bekommen“, „Mach bloß eine Ausbildung und kein Studium“, „Sei froh, dass du überhaupt bestanden hast“ und „Ich habe keine Lust auf Problemreferendare“ – am Ende steht Hilal da, mit dem Abitur, einem Studienabschluss, einem 1,2er Referendariat und nun als fertige Lehrerin, mittlerweile verbeamtet und mit dem Gesamturteil: „… hat sich in der Probezeit in vollem Umfang bewährt. Sie hat sich wegen besonderer Leistungen ausgezeichnet“. Letztere Zusatzfeststellung habe sie sich erkämpfen müssen: „Trotz Zertifizierung für Deutsch als Zweitsprache, Ausbildung zur Mediatorin für Streitschlichtung, Koordinatorin der interkulturellen Schulentwicklung, Betreuung von Praktikanten, Praxissemestlern und Referendaren und vielen Einzelprojekten wurde mir dies verwehrt.“ Sie hat sich währenddessen gefragt: „Wann ist man genug?“

War das ihr letzter Kampf? Nein.

Doch während sie bislang für sich einstehen musste, möchte sie sich nun für andere Menschen einsetzen, „die tagtäglich mit Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen haben“. Denn für Hilal gilt: #esreicht! Sie möchte, „dass man nicht blind ist, dass man sieht, dass es keine Einzelfälle sind.“ Das kann sie nicht mehr hören. Sie betont vor allem: „Es geht nicht um Schuldzuweisungen und die Suche nach einem Schuldigen. Es geht darum, Lösungen zu finden, damit künftige Generationen vorurteilsfrei und offen durch die Gesellschaft gehen und so auch auf ihre Eltern abfärben können.“ Sie wünscht sich einen fairen Umgang miteinander, „für alle“, und möchte das Thema „Diskriminierung“ stärker in den Fokus rücken – in einem ersten Schritt als Teil des Studiums und späterer Fortbildungen von Lehrerinnen und Lehrern.

Ihr Instagram-Name, teacher__light, kommt da nicht von ungefähr: „Ich möchte Hoffnung geben, nicht für eine Gruppe, sondern für alle Menschen.“ Fast 10.000 User/-innen folgen ihr mittlerweile online, rund 400 sind Hilals Aufruf gefolgt und haben ihre Geschichten mit ihr geteilt, die Hilal als Insta-Storys veröffentlicht hat: „Ich lese jede einzelne Geschichte und komme mit dem Lesen nicht hinterher.“ Für sie steht fast: „Es ist noch viel zu tun.“ »mw«

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