Auswandern nach dem Studium

Silvesterabend 2019. Meine besten Freunde und ich stehen ausgelassen mit einem Glas Sekt in der Hand auf dem Balkon, umarmen uns innig und sprechen uns ermutigend zu, dass 2020 endlich unser Jahr wird. Wie wohl auch der Rest der Welt haben wir nicht damit gerechnet, dass schon drei Monate später diese Wunschvorstellung vorerst auf Eis gelegt werden sollte. Trotz Mindestabstand, Maskenpflicht und Kämpfen um Toilettenpapier sollte 2020 doch „mein“ Jahr werden.

Foto: Mein Tag der Abreise © Sophie Kuhn

Deutschland zu verlassen und mich in einem fremden Land niederzulassen, bestimmte seit meiner Jugend die Mehrheit meiner beruflichen Entscheidungen. Die Wahl meiner Studienfächer war vor allem darauf ausgelegt, nach meinem Abschluss in einem anglophonen Land zu leben. Nach zwei Erasmus-Aufenthalten, davon sieben Monaten Studium in Paris, stellte ich fest, dass der Wunsch nach dem Leben im Ausland sich noch stärker in meinem Kopf manifestierte, jedoch die Wahl des Landes sich geändert hatte. Ich verliebte mich in der Stadt der Liebe. Allerdings nicht in einen jungen Franzosen, sondern in das Land. Bei meiner Rückkehr nach Deutschland war mir klar, dass Frankreich nach dem Studium zu meiner neuen Wahlheimat würde.

Last-Minute-Bewerbung zur Traumstelle in Frankreich

Im März letzten Jahres stieß ich auf das Programm Mobiklasse.de, eine Initiative des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW), das auf der Suche nach jungen Deutschen war, die Lust haben, ein Jahr lang die deutsche Sprache und Kultur in französischen Schulen zu bewerben, Interesse zu wecken und den Spaß am Sprachenlernen zu vermitteln. Während des Lesens der Stellenanzeige und des Durchforstens der Internetseite stand für mich schon bereits nach wenigen Minuten fest, dass dies genau die Art von Arbeit ist, in der ich mich wiedererkenne. Ich hatte das Gefühl, auf einen Job gestoßen zu sein, der die perfekte Mischung zwischen Studium und Arbeitswelt darstellte. Eine Arbeit, die mir nicht nur erlaubt, einen Einblick in das französische Schulsystem zu erhalten, sondern auch zeigen wird, welche berufliche Richtung ich danach einschlagen möchte. Denn, wenn ich mir einer Sache bewusst war, dann, dass ein Masterabschluss für mich nicht in Frage kommt. Dies stieß vor allem bei meiner Mutter auf Unmut, die zwanghaft versuchte, mich davon zu überzeugen, mein Masterstudium nach diesem Jahr aufzunehmen. Die immer wieder betonte, wie wichtig es doch sei, einen Masterabschluss zu haben, dass ich nach diesem Jahr zurückkehren sollte. Heute frage ich mich, inwiefern es dabei wirklich um den Abschluss ging oder vielleicht viel mehr um die Angst, eine Tochter zu verlieren? Ich wehrte mich vehement gegen die Option Masterstudium. Ich hatte genug vom Studieren, genug für Klausuren gelernt, genug Hausarbeiten geschrieben. Ich denke, dass ich vor allem ihr beweisen wollte, dass ich mich auch „nur“ mit einem Bachelor-Abschluss durchschlagen kann; und dann auch noch in Frankreich! Jackpot! Einziges Problemchen? Ich stieß nur durch Zufall auf die Ausschreibung und dann auch noch am Tag der Bewerbungsfrist. Es war bereits 22 Uhr, was also hieß, dass mir nur noch zwei Stunden blieben, um meine Bewerbung einzureichen. Doch ich hatte nichts zu verlieren. Wieso also nicht schnell eine Bewerbung verfassen, alle nötigen Unterlagen zusammensuchen, einscannen und das Dokument um kurz vor Mitternacht abschicken?

Abgabe der BA-Thesis © Sophie Kuhn

„Ich war so wütend auf mich selbst“

Schon am nächsten Tag erhielt ich die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Eine Woche später um 11 Uhr loggte ich mich über den mir zugesandten Link ein. Vor mir öffneten sich vier kleine Fenster mit mir bis dahin unbekannten Gesichtern. Jetzt ging es darum, diese vier Personen davon zu überzeugen, dass ich die Richtige für die Stelle bin. Ich redete über meinen Werdegang, meine Erfahrungen im Lehrbereich und sollte dann zum Schluss in einem Satz auf Französisch zusammenfassen, weshalb ich nach Frankreich zurückkehren wollte. Obwohl ich vor meinen Liebsten schon so häufig zehnminütige Monologe zu genau diesem Thema gehalten habe und ihnen eine Millionen Gründe aufzählen konnte, kam ich in diesem Moment ins Stottern. Ich war so aufgeregt, dass ich das Gefühl hatte, unverständliche Wörter aneinandergereiht zu haben. Ich fuhr meinen Laptop herunter und war mir sicher, dass ich die Chance auf meinen Traumjob vertan hatte und war so wütend auf mich selbst. Enttäuscht wartete ich also nur darauf, eine Absage zu erhalten. Eine Woche später traute ich mich dann endlich, mein E-Mail-Fach zu öffnen und nachzusehen. Ich saß in meiner Küche mit meinem besten Freund, aktualisierte den Posteingang und sah, dass ich eine Antwort erhalten hatte. Meine Hände begannen zu zittern, ich öffnete die Mail und schaffte es nur den ersten Satz zu lesen, bevor sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich reichte meinem Freund das Handy, der mich fragend ansah, und er las laut die Zusage vor. Ich weinte zehn Minuten lang vor Freude. Klar – man könnte jetzt sagen: Hey, warum warst du so aufgelöst? Ist doch nur die Zusage für einen Job? Aber für mich war es mehr als nur das. Ich wusste, dass sich nun endlich all die Bemühungen auszahlen würden. Dass die Idee „Auswandern“ sich nun endlich realisieren würde und ich schon in wenigen Wochen in Nantes leben sollte.

Mein ganzes Leben verpackt in einem Koffer und einem Rucksack

In den nächsten Wochen wurde Ebay Kleinanzeigen zu meinem treusten Begleiter. Ich befreite mich von allem, was mir als nicht mehr nützlich erschien. Möbel, Bücher und Kleidungsstücke, die mich durch die letzten Jahre meines Studentenlebens in Wuppertal begleiteten. Erinnerungen an meine erste eigene Wohnung, an lange Nächte mit Freunden in meiner kleinen Küche, blieben hier und leben weiter in neugegründeten WGs, wurden Teil von jungen Menschen, die sich, wie ich vor einigen Jahren, Wuppertal als Wahlheimat aussuchten. Mein ganzes Leben war eingepackt in einem Handgepäckskoffer und einem großen Reiserucksack. Die letzte Woche lebte ich bei meinen zwei besten Freunden auf dem Sofa. Freunde, die vorbeikamen, um sich zu verabschiedeten, staunten darüber, wie wenig ich doch hatte und dass dies alles ist, was mir bleibt. Die letzten Wochen waren etwas surreal für mich. Mental war ich schon in Nantes angekommen, die Lust, dort zu sein und das neue Abenteuer zu beginnen, stiegen täglich. Doch physisch war ich noch hier und wollte von der Zeit profitieren, den Sommer mit den Menschen genießen, die mich fünf Jahre jeden Tag lang begleiteten. Meine engsten Freunde und ich vermieden das Thema, so gut es ging. Wir hatten das Gefühl, dass, sobald es ausgesprochen wird, es wahr würde. Wir sprachen über alles, nur nicht über das, was bald passieren sollte. Erst am Tag der Abreise holte uns die Realität ein, der Moment war gekommen. Wir würden uns nun nicht mehr jeden Tag sehen.

Der Erdre, der durch die Innenstadt von Nantes fließt © Sophie Kuhn

Die Angst, weniger präsent zu sein

Nun lebe ich schon seit vier Monaten hier. Anfang November überkam mich zum allerersten Mal in meinem Leben das Gefühl von Heimweh. Eine Emotion, die mir unbekannt war bis dahin. Noch nie hatte ich Heimweh oder den Drang danach, „nachhause“ zu wollen. Ich liebte es, im Ausland zu sein, zu reisen. Woher kam also dieses Gefühl von Einsamkeit? Wichtige Ereignisse in den Leben meiner Liebsten fanden statt, und ich konnte nicht dabei sein. Mein großer Bruder wurde zum ersten Mal Vater, Freunde schlugen einen neuen Weg ein, begannen ein weiteres Studium, eine Ausbildung oder die Masterthesis. Neue Beziehungen ergaben sich. Und ich war 904 Kilometer weit weg. Konnte nur teilweise an diesen so wichtigen Veränderungen teilhaben. Dabei würde ich noch nicht einmal von der Angst sprechen, etwas zu verpassen, sondern viel mehr, vergessen zu werden. Weniger wichtig zu sein, ein weniger großer Teil in ihrem Leben zu sein, weniger präsent zu sein. Nachdem ich nun allerdings die Weihnachtstage in Wuppertal verbracht habe, wurde mir schnell bewusst, dass diese Angst vollkommen unbegründet war. Es war, als wäre ich nie weg gewesen, wie man so schön sagt. Während ich diesen Satz hier abtippe, sitze ich im Zug und bin auf dem Rückweg nach Frankreich. In mir macht sich ein Gefühl von „Nachhausekommen“ breit, und ich gebe mich mit dem Gedanken zufrieden, dass ich zwei Zuhause habe, auf die beide ich mich jedes Mal aufs Neue freue.

Gastautorin Sophie Kuhn

Sophie Kuhn ist ehemalige Studentin der Bergischen Universität Wuppertal. Nach ihrem Abschluss in den Fächern Anglistik/Amerikanistik und Sozialwissenschaften (Kombi B.A.) und zwei Auslandsaufenthalten in Frankreich und Großbritannien entschied sie sich Anfang des Jahres dazu, nach Frankreich auszuwandern. Sie lebt nun in Nantes und wirbt im Rahmen einer Initiative des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW) an französischen Schulen für die deutsche Sprache und Kultur. In einer Beitragsreihe berichtet sie über ihr Leben im Westen Frankreichs.

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